Neue Protestformen
Von Norbert Joa – Stand: 23.06.2009
Aufs Dach steigen
Einst malte der berühmte Zeichner Mordillo ein Knollennasenmännchen, wie es in Handschellen aus seinem Haus abgeführt wird, von zwei Knollennasenpolizisten. Sein Vergehen ist aus der Vogelperspektive offensichtlich: Im schwarzen Häuserdächermeer hatte es als einziges seine Dachziegel in allen Regenbogenfarben bemalt.
Nun hören wir, weil auf den Straßen Teherans Polizisten und Soldaten patroullieren, stünden die Menschen dort nun des nachts auf ihren Dächern, um ihren Zorn hinauszubrüllen über den Wahlbetrug. Mit der cleveren Parole „Gott ist groß“ – denn das ruft die Gegenseite auch. Weniger clever dagegen der zweite Slogan: „Tod dem Diktator“. Mehr als heikel, da er ja wirklich einer ist.
Andererseits – und damit zurück zu Mordillo – ein Knollennasenmännchen auf dem Dach war leicht zu verhaften. Aber hätten da Abertausende gestanden, mit Pinseln in Händen, auf einem bunten Häuserdächermeer – wo anfangen mit dem Verhaften?
Ruhe ist eben nicht immer die erste Bürgerpflicht
Im Gegenteil: Ist das Volk erstmal kleinlaut, kann man ihm umso besser aufs Maul hauen. Und sich die Gegner einzeln pflücken, Tag für Tag. Nun leben wir – Gott ist groß und Amerika hat geholfen – in einer Demokratie. Zu der nun auch mal streiten gehört, das Ringen um den rechten Weg. Ja, und auch Unruhe. Da darf man, soll man mit guten Gründen ruhig auch mal in Rage geraten und anderen aufs Dach steigen. Um ihnen die Meinung zu sagen.
Im einfachsten Fall wie im legendären Film NETWORK – da bittet der Starmoderator sein Millionenpublikum, die Fenster zu öffnen und rauszubrüllen: Ihr könnt mich alle mal oder: Ich lass mir das nicht länger gefallen. Und so geschieht’s, dröhnend. Im Kino. Aber warum eigentlich nur da?
Vor 30 Jahren bekamen deutsche Konzernchefs das 30fache ihrer Mitarbeiter, heute das 350fache. Mittlerweile besitzen die oberen zehn Prozent der Deutschen 70 Prozent des Volksvermögens. Dagegen arbeiten Hunderttausende Vollzeit und bleiben dennoch jeden Monat unter 1.000 brutto.
Warum eigentlich nicht mal anderen aufs Dach steigen? Zur Not auch erstmal aufs eigene. Zumindest um dort festzustellen – da sind noch mehr auf der Palme. Aber ach, gibt man die Begriffe Unruhe und Deutschland ein, meldet Google 500.000 Treffer. Und bei Heidi Klum? – 2 Millionen. Blaise Pascal, der große Denker, schrieb einst: „Das ganze Unglück der Menschen hat eine Ursache: dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.“ Halbrichtig. Manchmal rührt Unglück auch daher, dass zu viele Knollennasenmännchen zu lange in ihren Zimmern bleiben und eben nicht aufs Dach steigen…
Quelle: Bayern 2 Radio – http://www.br-online.de/bayern2/radiowelt/radiowelt-archiv-ende-der-welt-ID1205930245916.xml