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Über den Sinn von menschlicher Arbeit*

Buchtipp:

„Die Angst vor dem Glück – Warum wir uns selbst im Weg stehen“

von Rainer Tschechne. Aus dem Inhalt:

Angst_v_d_Glueck

Wer kann mir den Sinn von menschlicher Arbeit erklären, wenn sie nicht dazu führt, dass diejenigen, die sie leisten,
– ihre Ernährung und Gesundheit verbessern,
– mehr Zeit zur Selbstbestimmung bekommen,
– mehr Gelegenheiten erreichen, das zu tun, was sie wirklich gerne tun,
– immer mehr Raum zum Pflegen der persönlichen Beziehungen haben, so dass nicht die Steigerung des Bruttosozialproduktes, sondern
– die Steigerung der Lebensqualität im Mittelpunkt steht?

Wer kann mir die Ziele einer Weiterentwicklung unserer Wirtschaft plausibel machen, wenn sie nicht dazu führt, dass für den Einzelnen so viel Glück und so wenig Zwang wie möglich entsteht?

Wer kann sich noch belügen und von «Fortschritt» sprechen, wenn Fremdbestimmung, Stress und Zwänge stetig steigen, und als «Belohnung» dafür die Autos, mit denen von Termin zu Termin gehetzt werden muss, schneller werden?

Wie kommt es, dass sich die weit überwiegende Mehrzahl der gesellschaftlich Verantwortlichen viel mehr Gedanken über die Ankurbelung des Konsums machen als darum, wie das Leben in der Gemeinschaft für ihre Mitglieder, denen all das doch schließlich dienen soll, lebenswerter und menschlich reicher wird?

Wem dient es, wenn Globalisierung unseren Stress und unsere Krankheiten auf die ganze Welt verteilen wird, anstatt Lebenswert und Lebensqualität zu verbreiten?

Auch hier scheint es mir leichter, die Triebfedern dieser Entwicklung zu erklären, wenn wir sie nicht als Nebenwirkungen ansehen, sondern als aktiv gelebte Gewohnheiten unserer Gesellschaft. So gesehen kann man formulieren:

Unsere Wirtschaft und Gesellschaft hat auch das Ziel, Kampf, das Ertragen von Schmerz und die Fähigkeit, sich zu quälen, zu einem Teil unseres Alltags zu machen. Drehen wir die glänzende Medaille einmal um, und wir erkennen: Ein Ziel unserer Arbeit und Politik ist die aktive Aufrechterhaltung von Stress, Kampf und Selbstschädigung. Früher dienten diese Gewohnheiten dazu, der Natur oder anderen Menschen die Nahrung und die Utensilien des täglichen Lebens abzuringen.

Heute ist die Liste der Produkte endlos, die tatsächlich niemand braucht, um zufrieden zu leben. Trotzdem arbeiten viele Menschen unter großem Einsatz an solchen Produkten; sie leisten ein mühevolles, sinnloses Arbeitsleben.

Damit sie dafür Geld bekommen, müssen ihre Tätigkeiten in einem formalen Rahmen Anzeichen von Zwang, Stress, Unlust oder Selbstbeschädigung haben; damit steigt ihre Chance, als Arbeit anerkannt und entlohnt zu werden.

Unsere industrialisierte Gesellschaft wäre problemlos in der Lage, all ihre Mitglieder zu ernähren und ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten, auch wenn nur ein Bruchteil des allgegenwärtigen Stress und seiner Folgen gefordert und gefördert würde.

Doch dieses Wissen existiert noch nicht öffentlich. Stattdessen unterliegen wir den alten Gewohnheiten und versorgen uns, ohne nachzudenken, mit dem Maß an Kampf und Schmerz, das seit Jahrhunderten zu unserer Kultur gehört.

Nicht wenige von uns sind sogar stolz darauf, diesem Irrtum zu erliegen und für eine Karriere zu leben, die die natürlichen Glücksbedürfnisse des Menschen überhaupt nicht im Blick hat, sondern sich nur auf Kampf um Konsum richtet. In diesem Zusammenhang begegnet uns auch das Phänomen der «Workaholics».

(Dr. Rainer Tschechne: „Die Angst vor dem Glueck – Warum wir uns selbst im Weg stehen“; Langen Mueller Verlag, Muenchen 2003, 3-7844-2907-6,
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*) Übrigens:

Im Althochdeutschen bedeutet ›Arbeit‹: Mühsal, Plage, Beschwerde, Leid. Das spanische ›trabajo‹, das portugiesische ›trabalho‹ leiten sich vom ›tripalium‹ ab, einem Folterwerkzeug mit drei Stöcken, mit dem Sklaven ›bearbeitet‹ wurden. Auch das altfranzösische ›travail‹ bedeutete ursprünglich ›Folter‹.