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Eigenheim. Vom archaischen Wunsch nach den eigenen vier Wänden

    Der Wunsch nach den eigenen vier Wänden, insbesondere nach dem eigenen frei stehenden Einfamilienhaus, steht auf der Wunschliste der Deutschen ganz oben. Das eigene Haus gilt als der Rahmen für ein erfülltes bürgerliches Familienleben; heute ebenso wie in den 50er Jahren.

    Vom archaischen Wunsch nach den eigenen vier Wänden

    Das Wesen des Wohnens leitet Martin Heidegger aus dem Gotischen „wunian“ ab, das „zufrieden sein“ und „zum Frieden gebracht“ bedeutet. Wohnen ist eine Form des Seins, das Haus ist die Hülle dazu. Die Wohnung, ob Felsenhöhle, Baumhaus, Zelt oder Einfamilienhaus, ist für den Menschen die dritte Haut, die ihn vor den Unberechenbarkeiten der Witterung und anderen Gefahren schützt.

    Ein eigenes Haus steht für Zuflucht, Geborgenheit und Sicherheit. Viele alte Sprichwörter, wie zum Beispiel „Es gibt keinen Ort, der das eigene Haus ersetzt“, zeugen von diesem Sinn, dieser Funktion des Hauses für die Menschen. Auch die Medien und die Werbung appellieren an diese (Ur-)Sehnsüchte für ihre Zwecke: sei es mit den vor Glück strotzenden Darstellern in den vielen Bauspar-Werbsports, sei es mit dem Traumhaus, das man in der ARD-Fernsehlotterie gewinnen kann.

    Über das Wohnen selbst machen wir uns in der Regel keine Gedanken: Wir halten uns an etwas Gewohntes und leben unbewusst die Muster einer weit zurückreichenden Kulturgeschichte. „Obwohl sich die Hülle, in der wir wohnen, nämlich die Architektur, wandelt, ist das Wohnen selbst konservativ“, beschreibt Prof. Dr. Ingeborg Flagge, Direktorin des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt, dieses Phänomen.

    „Lieber kein Haus als ein einfaches“ – der typische deutsche Häuslebauer

    Sich ein Haus zu kaufen ist in Deutschland vor allem eine Frage des sozialen Status und des Lebensstils. Die typischen Hausbesitzer in Deutschland sind verheiratet, haben mindestens ein Kind und ein hohes Einkommen. Und im Vergleich zu anderen europäischen Hausbesitzern, insbesondere zu den Briten, ziehen die deutschen seltener um, so das Ergebnis einer Studie über Wohneigentum in Europa, die im Jahr 2002 von der Wüstenrot Stiftung veröffentlicht wurde.

    Wer sich die eigenen vier Wände gönnt, muss bereit sein, langfristig in anderen Bereichen des Lebens zu sparen, denn Häuser sind in Deutschland teuer: In Nordrhein-Westfalen kostet ein Einfamilienhaus im Jahr 2003 im Durchschnitt 190.000 Euro, ohne das Grundstück. Dafür muss der Häuslebauer im Schnitt sechs Jahres-Nettoeinkommen aufwenden.

    Die Deutschen bauen, so die Studie, ein „Haus für 100 Jahre“: Wenn schon ein Haus bauen, dann aber richtig! Es sollte dann auch allen erdenklichen Ansprüchen genügen, auf das Kellergeschoss verzichten die meisten Bauherren zum Beispiel ungern. Dieses „Alles-oder-Nichts“-Prinzip führt unter anderem dazu, dass Deutsche im Durchschnitt erst mit 38 Jahren Hauseigentümer werden, das ist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sehr spät.

    Erst Mietwohnungen, dann das Familienheim – Wohnungsbau nach 1945

    Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in Deutschland akuter Wohnungsmangel: Ein Fünftel der Häuser und Wohnungen war zerstört, fast ein weiteres Viertel beschädigt. Um diese Wohnungsnot so schnell wie möglich zu beheben und auch um für die zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene Unterkünfte zu haben, knüpft die Bundesregierung in den 50er Jahren an den sozialen Wohnungsbau der Weimarer Republik an: Der Bau von Mietwohnungen wurde zuallererst gefördert. Bis 1956 entstanden so mehr als drei Millionen Wohnungen, meist Sozialwohnungen.

    Nach dieser Phase des Wiederaufbaus öffnete der Staat seine Subventionspolitik in den 60er Jahren in eine neue Richtung. Jetzt wurden auch ganz gezielt „Familienheime“ gefördert: Bausparprämien, zinslose Darlehen und Steuervergünstigungen waren Anreize für die Bundesbürger, sich den Traum vom eigenen Haus im Grünen zu erfüllen. Ein wachsender Lebensstandard war die wichtigste Grundlage dafür, dass Familien sich ihre Eigenheime bauen konnten. Insbesondere die städtischen Mittelschichten wagten den Schritt, langfristige finanzielle Belastungen auf sich zu nehmen und eigenes Vermögen in Form der eigenen vier Wände zu bilden.

    Von 1955 bis 1985 entstanden in Westdeutschland jährlich etwa 150.000 Eigenheime: Das eigene Haus im Grünen, ein Privileg, das Anfang des 20. Jahrhunderts nur reichen Leuten vorbehalten war, konnte sich nun eine breite Schicht der Bevölkerung leisten. Diese Abwanderung aus der Stadt an die Peripherie hatte zur Folge, dass viel Landschaft zugebaut und das Verkehrsaufkommen immer größer wurde, denn ohne Auto war und ist das Eigenheim im Grünen schlecht zu erreichen.

    Nach der Wende, insbesondere in den 90er Jahren, herrschte in Ostdeutschland Nachholbedarf: Zwischen 1993 und 1999 wurden dort 225.000 Häuser im Grünen gebaut, eine Generation später als im Westen. Im Jahr 2002 wohnten 34 Prozent der Westdeutschen und 27 Prozent der Ostdeutschen in ihrem Wunschhaus.

    Wohnen wird wieder zur Privatsache

    Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man in Deutschland an den sozialen Mietwohnungsbau der Weimarer Republik angeknüpft. Doch spätestens seit den 80er Jahren hat sich der Bund immer mehr aus dem Wohnungsbau zurückgezogen und propagiert nunmehr Eigentum statt Miete: Wohneigentum wird als ein wichtiger sozialer Stützpfeiler des gesellschaftlichen Systems gewertet. Damit ist Wohnen, nach dem „Exkurs“ in den sozialen Wohnungsbau der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit, heute wieder zu der Privatsache geworden, wie es das die meiste Zeit auch schon gewesen ist. Im Jahr 2004, knapp 60 Jahre nach Kriegsende, gibt es in vielen Bereichen keinen akuten Wohnungsmangel mehr, im Osten werden sogar Hunderttausende leer stehender Wohnungen abgerissen. Es gibt aber auch Kritik an dem Rückzug des Staates aus der Wohnungsbauförderung, die der Architekt und Autor Gert Kähler so formuliert: „Wenn die meisten versorgt sind, gibt es für die Mehrheit keinen Grund, den Rest auch noch zu versorgen.“

    Das Traumhaus im Wandel

    Bisher sind Familien die typischen Hausbesitzer in Deutschland, und immer noch werden in erster Linie die klassisch konfektionierten Einfamilienhäuser für die Durchschnittsfamilie angeboten. Doch die Tatsache, dass es immer mehr Single-Haushalte, Alleinerziehende und ältere Menschen in unserer Gesellschaft gibt, zwingt auch die Planer von Häusern zum Umdenken. Alternative Lebens- und Wohnformen geraten ins Blickfeld der Architekten, es werden immer häufiger Fragen gestellt wie: Wie werden wir in Zukunft wohnen? Was wird unsere Wohnform beeinflussen?

    Auch Singles, Alleinerziehende oder Senioren, Gesellschaftsgruppen also, die in der Wohnhaus-Architektur bisher wenig Beachtung fanden, würden sich gerne ein Häuschen anschaffen, wenn es denn nicht zu groß und nicht zu teuer ist. Das deutsche „Haus für 100 Jahre“ gerät ins Wanken. Neue Grundrisse, die nicht mehr nur Ansprüchen von Familien genügen, bereichern mittlerweile das Häuserangebot: Im Trend liegen unter anderem mobile Minihäuser, die mit Wohnflächen unter 100 Quadratmeter kleiner und günstiger sind als die klassischen Familienheime. Namhafte Architekten entwerfen minimalistische Wohneinheiten mittlerweile sogar für Fertighaus-Hersteller, und das zu durchaus erschwinglichen Preisen.

    Quelle: https://www.planet-wissen.de/ 14.09.2004

    Siehe auch:

    Tiny House – Kleines Haus, große Wirkung

    Leben auf neun Quadratmetern

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