Zum Inhalt springen

Stadt und Urbanität

    von Hartmut Häußermann und Walter Siebel

    Hartmut Häußermann ist Professor für Stadt- und Regionalsoziologie am Fakultätsinstitut Sozialwissenschaften der Philosophischen Fakultät III an der Humboldt-Universität Berlin, Walter Siebel ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Stadt- und Regionalforschung an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg.

    Urbanität verbinden wir seit Georg Simmels Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ mit Größe, Dichte und Vielfalt, aber auch mit einer bestimmten Gestalt der Stadt. Dieses Bild enthält drei formale Elemente:

    • Zentralität, also ein bauliches und funktionales Gefälle vom Zentrum zur Peripherie;
    • Gegensatz zum Land, also ein klar ausgeprägtes Gegenüber von Stadt und Land;
    • funktionale und soziale Mischung, also ein Nebeneinander von Wohnungen, Geschäften, Betrieben, Cafés, Vergnügungsstätten, Armen und Reichen, Jungen und Alten auf engem Raum.

    Die anziehendsten Bilder von der „urbanen Stadt“ entstammen einer Übergangsepoche, als die vorindustrielle Gestalt der Stadt und die Funktionen und Erregungen der aufkeimenden Moderne buchstäblich im Raum aufeinanderprallten. Die Gestalt der europäischen Stadt war noch nicht im Siedlungsbrei verschwunden, aber ihre soziale Enge, ihre politischen und ökonomischen Verkrustungen waren von der Dynamik der kapitalistisch organisierten Industriegesellschaft bereits aufgebrochen.

    Die Auflösung der Gestalt der urbanen Stadt beginnt bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Die Industriegesellschaft benötigte die Stadt nur noch als Agglomeration von Arbeitskräften und Kunden. Sie schuf ihre Fabriken, Infrastrukturen und Wohngebiete außerhalb der alten Bürger- und Residenzstädte. Wo vorindustrielle Stadtkerne nicht existierten, entstand eine gänzlich neue Siedlungsstruktur, eine „verstädterte Landschaft ohne eigentliche Stadt“ (Lutz Niethammer).

    Wo, wie fast überall in Europa, die Industrie sich an die alten Städte anlagerte, war Stadtentwicklung bis in die dreißiger Jahre vor allem Stadterweiterung: Die Industriegürtel und die Wohngebiete der Gründerzeit wurden an die alte Stadt angebaut, blieben direkt auf sie bezogen, die Entfernungen konnten noch nicht groß sein. Auch die Entwicklung der Stadtkerne folgte dem Muster einer allmählichen Erweiterung in konzentrischen Kreisen: Die typische Form der Innenstadtentwicklung seit der Jahrhundertwende war die „City-Erweiterung“. Die zentral gelegenen Funktionen brauchten mehr Platz, sie wanderten aber nicht ab, sondern dehnten sich in die Randgebiete der Innenstadt aus.

    Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts beschleunigt sich diese Entwicklung. Die Stadtplaner überhöhen mit ihren Leitbildern von der Überwindung des Stadt-Land-Gegensatzes (Gartenstadt) und von der Trennung der städtischen Funktionen Arbeiten, Wohnen, Erholung und Verkehr (Charta von Athen) die Tendenzen der Entdichtung und Entmischung der kompakten und komplexen Stadt. Der Bau geschlossener Siedlungen am Stadtrand in den zwanziger Jahren ist der erste absichtsvolle Schritt zu einer geplanten Suburbanisierung, die mit der Automobilisierung und dem Großsiedlungsbau in den 50er und 60er Jahren dann zur massenhaften Bewegung in der Bundesrepublik wird. Noch aber bleiben dies „Vororte“, „Siedlungen“, funktional eindeutige Trabanten der Großstadt.

    Seit den 70er Jahren aber bricht diese Entwicklung um: Handel und sonstige Dienstleistungen ziehen der Bevölkerung hinterher, die Zuwanderung in die Städte stagniert, ihre Einwohnerzahlen gehen zurück. Zu dieser Suburbanisierung kommt die Krise der industriellen Stadt: Nun wandert auch die Produktion aus. Die zentrifugalen Tendenzen werden übermächtig, die „alte Stadt“ scheint zu erodieren. Verschwindet damit die urbane Stadt? Löst sie sich auf, wird es nur noch undifferenzierten Siedlungsbrei geben? Und wird damit die Stadtkultur beschädigt?

    Auflösung der Stadt

    Betrachtet man die neuere Stadtentwicklung in den USA und Europa, dann dominieren die zentrifugalen Tendenzen. Ökonomische Rationalität und technische Möglichkeiten erlauben es heute, daß die städtischen Funktionen sich in alle Richtungen verstreuen. Was früher einen zentralen Standort beanspruchte, weil es für Arbeitskräfte und Kunden gut erreichbar sein mußte, unterliegt heute keinen eindeutigen Standortanforderungen mehr – und wenn, dann sind es nicht mehr die Innenstädte. Das gilt für die industriellen Arbeitsplätze, für die großen Handelseinrichtungen, für die neuen Dienstleistungsbetriebe und auch für das Wohnen.


    Historisch war der Handel Ursprung und zentrales Agens der Stadtbildung. Aus den Marktbuden wanderte er in die Häuser der Innenstadt, er war Träger der „City–Bildung“ um die Jahrhundertwende, als die Kaufhäuser entstanden, die den Marktplatz in sich aufsogen. Diesen ersten Quantensprung zum Massenkonsum konnten die Innenstädte noch auffangen, aber der zweite seit den siebziger Jahren geht an ihre Existenz. Die Rationalisierung im Einzelhandel, nach deren unerbittlicher Logik die Verkaufsflächen beständig ausgeweitet und die Einzugsbereiche vergrößert werden, hat einen gigantischen Konzentrationsprozeß bewirkt. Auf der grünen Wiese spreizen sich die Einkaufszentren mit einem sorgfältig komponierten Angebotsmix, das auch die „Erlebnisqualität“ der traditionellen Innenstadt bieten soll, Simulationen von Stadt. Beim modernsten Typ handelt es sich längst nicht mehr um bloße Einkaufszentren, sondern um Freizeit- und Erlebnisparks (mit Kino, Gastronomie, Schwimmbad usw.), in denen man auch einkaufen kann. Die Innenstädte können weder die Flächen noch den Verkehrsanschluß bieten, die solche Konsummonster brauchen. Deren Orte sind die Autobahnkreuze.

    Die Industrie hat die Städte weitgehend verlassen. Die Arbeitsplätze sind ins Umland oder noch weiter aufs Land gewandert, sind entweder wegrationalisiert oder ins Ausland verlagert worden. Wo Fabriken, Schlachthöfe oder Hafenanlagen aufgegeben werden, entstehen Löcher in den Städten. Diese Löcher liegen in den Stadterweiterungsgebieten der Gründerzeit beziehungsweise in jenen Städten, die mit der Industrialisierung erst entstanden sind, mittendrin (zum Beispiel Oberhausen). Wann, wo und aus welchem Grund solche Löcher im Stadtkörper aufgerissen werden, erfährt die Stadtplanung meist erst, wenn es geschieht. Die Lücken entstehen unsystematisch, sind nicht vorhersehbar und daher auch nicht einplanbar.

    Neue Dienstleistungskomplexe entstehen an den Ausfallstraßen, mit Vorliebe in der Nähe zum Flughafen, die Hotel- und Kongreß-City gleich nebenan. Diese Instant-Cities beinhalten alles, was eine Dienstleistungsstadt braucht: Büros, Catering, zuarbeitende Dienstleistungsunternehmen, Wohnungen, Hotels und den vom Portier diskret vermittelten Callgirlservice.

    Die Telekommunikation hat das Potential, den Raum zu „vernichten“, räumliche Distanzen schrumpfen zu vernachlässigbaren Größen. Datenlieferungen (alles, was in den Büros passiert, ist im weitesten Sinne Datenverarbeitung), Bestellungen, Informationsaustausch, Zahlungsverkehr – im Prinzip kann alles über die Glasfaser abgewickelt werden. Der Einwahlknoten ins weltweite Netz ist auch telefonisch von überall her erreichbar. Damit einher geht eine Entlokalisierung und Individualisierung der Zeitstruktur. Am gleichen Ort werden verschiedene Zeiten gelebt, der Rhythmus der Stadt zerfasert. Alles hängt mit allem zu jeder Zeit zusammen. Die Propheten des digitalen Zeitalters haben die alteuropäische Vorstellung von Urbanität bereits verabschiedet und kommentieren derartige Erinnerungen nur noch höhnisch. Der virtuellen Stadt im Internet gehöre die Zukunft!

    In den 70er und 80er Jahren verloren die westdeutschen Städte Einwohner, seitdem aber erlebten sie durch die unerwartete Zuwanderung aus den osteuropäischen und ostdeutschen Regionen ein neues Bevölkerungswachstum. Viele hielten daher das Thema der „schrumpfenden Stadt“ für erledigt. Doch wo die Zahl der Stadtbewohner heute (noch) nicht wieder sinkt, ist dies ausschließlich auf die Zuwanderung von Armuts- und Kriegsflüchtlingen zurückzuführen. Unterdessen geht die Suburbanisierung der ökonomisch und sozial integrierten Bevölkerung weiter. Die auf mehr private Fläche gerichteten Wohnwünsche bilden eine stabile Grundlage für den anhaltenden Trend zu immer geringeren Bewohnerdichten in der Stadt. Dabei differenzieren sich die sozialen Welten zwischen Stadt und Umland weiter aus: In den Städten gibt es immer weniger Familienhaushalte, jedoch immer mehr individualisierte und ökonomisch prekäre Existenzen. Nur noch in 15 % aller Haushalte Münchens leben Kinder – und von diesen 15 % sind wiederum ein Viertel Alleinerziehende und unverheiratete Paare mit Kindern. Die „Normalfamilien“ leben außerhalb der Städte.

    Damit verschwindet die gewohnte Gestalt der europäischen Stadt. Ihre Zentralität wie ihre klare Grenze gegen das Land gehen verloren. Das dritte Element des räumlichen Bildes von der urbanen Stadt, die feinkörnige Mischung der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Konsum und Freizeit, das Neben- und Miteinander von Jung und Alt, von Wohlhabend und Ärmlich im Stadtteil: Dieses Bild vom lebendigen Quartier wird von beinahe allen Planern und Politikern beschworen. Warum aber ist es dann so schwer, es in Praxis umzusetzen? Auch hier sind ökonomische Entwicklungen dafür in erster Linie verantwortlich: Moderne Produktionsbetriebe lassen sich nicht kleinteilig mit Wohnfunktionen mischen. Die großen Shopping-Malls und Freizeitparks, die modernen Logistikzentren und der damit verbundene Verkehr machen Wohnen in der Nähe solcher Anlagen immer unerträglicher. Die anhaltende Konzentration und Zentralisation in Produktion, Konsum, Verkehr und Freizeit lassen das lebendige, vielfältige Quartier als rückwärtsgewandte Illusion erscheinen.

    Die zentrifugalen Tendenzen, die Entmischung der Funktionen und – damit verbunden – die Spezialisierung der Orte führen zu einer Multilokalität beziehungsweise Fragmentierung des Alltags, der keine strukturierende Mitte mehr kennt. In welcher Stadt sie eigentlich leben, wissen immer weniger Menschen, denn wo man wohnt, da arbeitet man nicht, und wo man arbeitet, verbringt man nicht seine Freizeit. Selbst das Wohnen spaltet sich weiter auf in eine Werktags- und eine Wochenendbehausung. Stadtbenutzer und Stadtbewohner sind immer weniger identisch, und in dieser Differenz verschwindet allmählich der Stadtbürger.

    Angesichts wachsender Polarisierung und Konflikthaftigkeit entsteht bei denen auf der Sonnenseite des sozialen Grabens eine Sehnsucht nach sicheren und homogenen Nachbarschaften. Sie kann am besten in Neubaugebieten befriedigt werden, die von vornherein für eine abgegrenzte Zielgruppe gebaut werden. Suburbanisierung wird in den Großstadtregionen heute weniger von individuellen Häuslebauern als von Developern organisiert, die schon aus Absatzgründen die Abwesenheit von störenden Elementen garantieren müssen und die daher mit raffinierten Sicherheitstechniken arbeiten. Der öffentliche Raum verschwindet hinter den privaten Kontrollen. Die Stadt zerfällt in die scharf bewahrten Inseln der Wohlhabenden und Integrierten und in die Gettos der Armen, der Ausgegrenzten und der Fremden. Ist also die Erinnerung an die Gestalt der europäischen Stadt und ihre darin bewahrte Urbanität nur noch Nostalgie, wenn nicht Ideologie?

    Revitalisierung der Stadt

    Die Städte werden in den reichen und auf hohem technischem Niveau basierenden Gesellschaften nicht verschwinden, und in den „unterentwickelten“ Regionen wachsen sie rasant. Ihre erstaunliche Stabilität und Vitalität hat viele Stützen, sowohl ökonomische Interessen wie romantische Hoffnungen. Zum einen sind da die gebauten Strukturen in ihrer Trägheit – entstanden in Jahrhunderten durch die Masse der Investitionen in Kanäle, Straßen und Gebäude, gebunden durch die Interessen der Eigentümer und Nutzer, und diese sozialen Beziehungen verleihen der gebauten Substanz Stabilität. Zum anderen wird, wenn die abwandernden Nutzungen „Löcher“ in den Städten hinterlassen, der städtische Boden ökonomisch entwertet. Dadurch steigt das Flächenangebot, und die Bodenpreise sinken, was nun auch ökonomisch schwache Nutzungen auf zentral gelegenem Gelände ermöglicht. Ein alternatives Kulturzentrum fand, als die industrielle Produktion noch boomte, keinen Standort in der Stadt; heute sind die Stadtplaner froh, wenn ein leerstehendes altes Fabrikgebäude besetzt und mit neuem Leben gefüllt wird. So können Funktionen, die früher aus der Stadt verdrängt worden waren, wieder zurückkehren.

    Der Zyklus von Entwertung und erneuter In-Wert-Setzung zeigt sich besonders deutlich bei der „Reurbanisierung“ innerstädtischer Areale. Am Rande des Stadtzentrums gelegene alte Wohngebiete, vorindustrielle Viertel oder Gründerzeitquartiere, die die Angriffe britischer Bomber, moderner Planer und gewerblicher Investoren überlebt haben, erfahren einen neuen Verwertungszyklus als Wohngebiete, indem sie für eine neue Nachfrage aufbereitet werden, die sich aus dem demographischen und ökonomischen Wandel der letzten beiden Jahrzehnte ergeben hat, als die geburtenstarken Jahrgänge der 60er Jahre begannen, eigene Haushalte zu gründen. Der Wandel der Berufsstrukturen, das gestiegene Bildungsniveau, die ökonomische Emanzipation der Frauen und – damit zusammenhängend – die neuen Haushaltstypen (Wohngemeinschaften, Alleinlebende, unverheiratete und kinderlose Paare) begünstigen innenstadtorientierte Lebensweisen. Für diese Nachfrage werden die Städte hergerichtet.

    Mit der globalen Vernetzung der Arbeitsplätze wird der seit langem schon wirksame Prozeß der Entlokalisierung von Zeit noch weiter getrieben: Schon heute haben Nachbarn – das schulpflichtige Kind, die schichtarbeitende Mutter, der Arbeitslose, die Hausfrau – nur selten die gleichen Zeitstrukturen. Mit der globalen Vernetzung wird die Zahl der Berufstätigen, deren Zeitstruktur sich gänzlich vom Ort gelöst hat, zunehmen. Man mag seinen Arbeitsplatz zu Hause haben, aber man findet mit seinen Nachbarn keinen Kontakt.

    Aber eben das kann zur Aufwertung des Zentrums beitragen: Bei individualisierten Zeitstrukturen werden standardisierte Öffnungszeiten von Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen immer obsoleter. Bei zunehmender Berufstätigkeit der Frau gibt es in immer weniger Haushalten eine Person, die ihre Arbeitsabläufe den Öffnungszeiten von Ämtern und Geschäften anpassen kann. Also werden die Öffnungszeiten dereguliert werden müssen hin zur Öffnung rund um die Uhr. Bei gleicher Kundenzahl aber wird sich eine Dienstleistung, die 24 Stunden am Tag bereitgehalten werden muß, außerordentlich verteuern. Also müssen mehr Kunden als früher kommen. Das kann nur durch eine Erweiterung des Einzugsbereichs erreicht werden, das heißt durch Zentralisierung. Geschäfte und Dienstleister werden sich deshalb stärker auf die Orte höchster Erreichbarkeit konzentrieren müssen, und das sind die Stadtzentren, die sich zu Orten entwickeln, wo jeder, egal zu welcher Zeit, alles findet, was er benötigt. Die Entlokalisierung und Individualisierung der Zeit können so zur Rezentralisierung der Städte beitragen.

    Die historischen Zentren gewinnen außerdem an Bedeutung als Touristenattraktion, was wiederum zu ihrer ökonomischen Überlebensfähigkeit beiträgt. Allerdings gilt das nur für solche Städte, die ein entsprechendes kulturelles Kapital (historisches Stadtbild) und die notwendige Infrastruktur aufweisen können.

    Der Stadtrand kommt dann zurück ins Zentrum, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen werden können. Einkaufszentren können ihren Einzugsbereich ausdehnen, wenn sie sowohl mit dem Auto wie mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar sind. Die Einrichtung von Fußgängerzonen war der Versuch, den Einzelhandel in den Innenstädten zu einem Einkaufszentrum zusammenzuschließen, aber er litt immer unter der schweren Erreichbarkeit per PKW. Aufgelassenes Fabrikgelände dagegen bietet schon bessere Voraussetzungen.

    Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Strategie sind die spektakulären Pläne der Bahn, ihre freiwerdenden Gleisanlagen zu City-Flächen aufzuwerten, um so Kapital für ihre Modernisierung zu mobilisieren. Gleichzeitig sollen die Bahnhöfe zu Knotenpunkten einer neuen Urbanität umgestaltet werden. Zu Beginn des Eisenbahnzeitalters lagen die Bahnhöfe vor der Stadt und waren ihre Zugänge. Dann wuchs die Stadt um sie herum. Inzwischen werden sie selbst zu Zentren. U-, S- und Bundesbahnhöfe werden ausgebaut zu Einkaufs- und Erlebniszentren mit Gleisanschluß. Das ist kein Zufall, denn die Stadt löst sich immer mehr auf in Moblilität, und deren Knotenpunkte werden die logischen Zentren, an denen urbane Funktionen im Vorübergehen dargeboten werden. Damit können Bahnanlagen, an denen sich die City-Expansion immer stieß, die aber heute überflüssig oder verlagert worden sind (Güterbahnhöfe und Verschiebegleise), wieder in Wert gesetzt werden. Die Bahn plant in Deutschland zwanzig solcher „Zentren fürs 21. Jahrhundert“.

    Urbanitätsbeschwörung

    Wenn die gegenwärtig feststellbaren Trends anhalten, wird die überkommene Gestalt der europäischen Stadt im Gemenge der Agglomerationen verschwinden: Sie hat ihre gesellschaftliche Basis verloren, sie ist nicht mehr notwendig. Soll sie weiter bestehen, so bedarf es bewußter Politik. Von selbst und ohne wie immer ökonomisch interessierte Inszenierungen scheint die Gestalt der europäischen Stadt nicht überleben zu können. Für eine solche Politik zugunsten des Erhalts der europäischen Stadt gibt es Spielräume, Verbündete und gute Gründe. Aber dies wird zu einer anderen Stadt führen, die Qualität des Urbanen wird dabei verdünnt.

    Die Klage über den drohenden Verlust von Urbanität und der darin begründete Appell an Politik und Investoren, diesen Verlust aufzuhalten, weist Ähnlichkeiten auf zur konservativen Stadtkritik der Jahrhundertwende. Zwar propagierte diese Kritik die Rückkehr aufs Land und in die friedliche Kleinstadt, während die heutige Rede vom Verlust der Urbanität die große Stadt gerade bewahren will, aber abgesehen davon scheint die kulturpessimistische Logik der Argumentation doch ähnlich: Beide Male mündet sie im Appell an die Politik, eine durch die gesellschaftliche Entwicklung bedrohte bessere Vergangenheit zu bewahren. Die konservative Großstadtkritik plädierte für den Erhalt dörflich-ländlicher und kleinstädtischer Strukturen gegen die sich entwickelnde industrielle Großstadt mit sozialen Argumenten (Zerfall von Familie und Gemeinschaft), mit biologischen Überlebensnotwendigkeiten (die Unfähigkeit der Großstädter, sich zu reproduzieren) und mit dem drohenden Verfall der Kultur (Materialismus und Vermassung). Ebenso wird heute kulturell (Erhalt der europäischen Urbanität), sozial (Fürsorge für die in der Kernstadt abgelagerten Randgruppen) und mit Überlebensnotwendigkeiten (ökologische Katastrophe) für eine Politik gegen die vorherrschenden Trends der gesellschaftlichen Entwicklung argumentiert. Besteht der Unterschied nur darin, daß nicht mehr für den Erhalt des Landes gegen die Stadt, sondern für den Erhalt der Stadt gegen ihr Verschwinden im strukturlosen Siedlungsbrei plädiert wird?

    Die Analogie reicht tiefer: Die konservative Kritik an der sich entwickelnden industriellen Großstadt hat die Stadt verantwortlich gemacht für die Folgen der kapitalistisch organisierten Industrialisierung. In dieser Verwechslung von Ursache und Wirkung war ihre illusionäre Hoffnung begründet, mit der Rückkehr in die Kleinstadt würden auch die bedrohlichen Massen mit all ihrem Elend wieder verschwinden, die in den großen Industriestädten so erschreckend sichtbar geworden waren. Der Appell an die Politik, die Gestalt der europäischen Stadt zu bewahren, beruht auf derselben ideologischen Überschätzung der gebauten Stadtstruktur. Nur ihr Bild wäre restauriert, aber nicht ihre Qualität, denn Urbanität ist mehr als nur eine Form der Stadt, sie ist eine Lebensweise, eine Geisteshaltung, eine zivile Kultur mit entsprechenden Verhaltensstandards.

    Die vormoderne Stadt war ein besonderer Ort mit einer besonderen Kultur, die in vier Dimensionen auf eine Utopie von ziviler Gesellschaft verwies: In zivilisatorischer Hinsicht war die Stadt Ort der Emanzipation von Naturzwang. In politischer Hinsicht war sie der Ort von Selbstverwaltung, der Regierung durch eine Stadtbürgerschaft. In sozialer Hinsicht war sie – trotz aller Spaltungen und Ausgrenzungen – der Ort von Integration; welche Massen von Zuwanderern die Städte im 19. Jahrhundert aufgenommen und in ihre Ökonomie integriert haben, ist historisch beispiellos. In kultureller Hinsicht war die Stadt der Humusboden für den modernen Sozialcharakter, sie ermöglichte die Emanzipation des Individuums aus den Bindungen der familiären Clans und aus den sozialen Kontrollen der lokalen Gemeinschaft. Das war die Voraussetzung dafür, daß die Stadt zum Zentrum kultureller Innovation wurde. Damit übernahmen die Städte die politische und kulturelle Führungsrolle in den sich modernisierenden Gesellschaften, und diese Rolle war verbunden mit ihrer Zentralität, die sich in baulicher Dichte und Repräsentanz manifestierte. Solange es keine Autos, keine Telekommunikation und keine Massenmedien gab, war die räumliche Dichte der Großstadt notwendige Voraussetzung für diese ökonomischen und kulturellen Leistungen. Alle, die am „Fortschritt“ teilhaben oder die einen Markt erschließen wollten, mußten einen Fuß in der Tür haben.

    Das ist überflüssig geworden und vorbei. Politische Meinungsbildung findet im Fernsehen statt, und wer nicht in den Massenmedien werben kann, hat keinen ökonomischen Erfolg. Der Kulturbetrieb ist entlokalisiert, seine Stars treten in der Mailänder Scala oder in einer Scheune in Schleswig-Holstein auf. Die Stadt ist kein gesellschaftlich besonderer Ort mehr, allenfalls ein Ort höchster kultureller Differenzierung, der aber die Gesellschaft nicht mehr transzendiert. Die demokratische Organisation von Herrschaft ist nicht mehr Charakteristikum allein der Stadt, sondern Prinzip der Organisation des Nationalstaats. Individualisierung und die Differenzierung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit prägen heute auch ländliche Lebensweisen. Der Verlust der politischen, ökonomischen, sozialen und zivilisatorischen Besonderheit der Stadt ist der entscheidende Grund für das physische Verschwinden der Gestalt der Stadt in den Agglomerationen, ebenso wie für die Unmöglichkeit, ihre Urbanität durch planende Interventionen wiederzubeleben. Urbanität läßt sich nicht bauen.

    Geplante Urbanität?

    Edgar Salin hat Urbanität bestimmt als Mitwirkung der Bürger am Stadtregiment, also als durchgesetzte Demokratie. Solange der Bürger in derselben Stadt, in der er wohnte, auch arbeitete und das Theater besuchte, solange existierte eine Stadtbürgerschaft. Heute aber wohnt man in A, arbeitet in B, kauft ein in C und ist an D nur insoweit interessiert, wie man schnell mit dem Auto hindurchkommt. Damit existiert keine Stadtbürgerschaft mehr, in deren Öffentlichkeit die Konflikte zwischen Verkehr, Wohnen, Wirtschaft und Kultur diskutiert und entschieden werden könnten. Diese Öffentlichkeit ist zerfallen in verschiedene Kundengruppen, die hochspezialisierte Interessen befriedigt haben wollen: von A ein möglichst ungestörtes Wohnen, von B einen expansiven Arbeitsmarkt, von C gute Einkaufs- und Vergnügungsmöglichkeiten und von D Schnellstraßen. Engagement und Mitwirkung einer aktiven Stadtbürgerschaft lassen sich heute nur noch in regionalen Zusammenhängen dauerhaft organisieren. Die herkömmliche Gestalt der europäischen Stadt ist ein zu enges Gefäß geworden für den politischen Gehalt der Urbanität, die Mitwirkung der Bürger am Stadtregiment.

    Daß man Urbanität nicht bauen kann, gilt ebenso für ihren sozialen Gehalt. Soziologen haben die urbane Qualität der Stadt immer als eine Kultur der Differenz definiert. Richard Sennett hat kürzlich wiederholt, was vor ihm Hans Paul Bahrdt und bereits vor hundert Jahren Georg Simmel formuliert haben: Die Stadt ist der Ort, wo Fremde zusammenleben. Die urbane Stadt ist ein Ort, wo verschiedene Lebensweisen, Anschauungen und Kulturen nebeneinander existieren können und zugleich in produktiven Austausch zueinander treten.

    Urbanität als Kultur der Differenz setzt soziale Integration voraus. Diese beruht auf handfesten ökonomischen Bedingungen: Wachstum, funktionierende Arbeitsmärkte und ein haltbares Netz sozialer Absicherung. Erst dadurch wird soziale Integration gesichert, indem die Gesellschaft jedem eine ökonomisch gesicherte Existenz und eine fraglos gesellschaftlich nützliche Rolle, das heißt einen Platz im Leben, zuweist. Heute aber filtern die Wachstumsgewinne nicht mehr nach unten durch, und der Arbeitsmarkt als zentraler Mechanismus der Integration versagt. Die wachsende Zahl der dauerhaft Arbeitslosen, viele der neu Zugewanderten drohen in eine Randexistenz zu geraten, wo sie vom ökonomischen, sozialen und kulturellen Leben der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Damit kann sich auch in Deutschland eine Unterschicht entwickeln, wie sie in den Gettos amerikanischer Städte existiert: eine Minderheit von dauerhaft aus den Zusammenhängen der Gesellschaft Ausgegrenzten. Wenn aber die Stadtgesellschaft nicht nur hierarchisch gegliedert ist in ein Oben und ein Unten, sondern gespalten ist in ein Drinnen und ein Draußen, dann fehlt die soziale Integration, auf deren Basis sich erst eine Kultur der Differenz und eine produktive Auseinandersetzung mit dem Fremden entfalten kann. Dann drohen die urbanen Tugenden der resignierten Toleranz und Gleichgültigkeit umzuschlagen in Abgrenzung und Gewalt. Die sich verschärfende Segregation auch in den westdeutschen Städten, das Nebeneinander von Zitadellen der Wohlhabenden und Inseln der Armen ist Indiz für mehr als nur ein sozialpolitisches Problem: Es belegt die Erosion der sozialen Basis von Urbanität.

    Ebensowenig, wie mit der gebauten Form der politische und kulturelle Gehalt der urbanen Stadt wiederbelebt werden kann, ebensowenig kann es gelingen, Urbanität zu planen, also durch absichtsvolles Handeln herzustellen. Gerade weil es geplante Strukturen und inszenierte Bilder sind, fehlt ihnen das, was die Qualität von Urbanität ausmacht: die Überraschung, das Unvorhergesehene, das Fremde. Daß Stadt gezielt inszeniert wird, hat seinen Grund in der Art und Weise, wie Städte heute produziert werden: durch die Kommune und/oder private Investoren, in jedem Fall durch ein planendes Subjekt, das Stadt bewußt herzustellen sucht. In der alten europäischen Stadt waren Immobilieneigentümer und Nutzer noch nicht getrennt. Die Absicht, ein Stück Boden zu kaufen und darauf ein Gebäude zu errichten, war motiviert durch einen anderen Zweck als schlicht den, Immobilienbesitzer zu sein. Ein Laden sollte eröffnet, ein Handelskontor geführt oder eine Gaststätte betrieben werden. „Stadt“ entstand nebenbei. Heute hat sich die Immobilienbranche abgelöst von allen spezifischen Zwecken, sie ist zu einer eigenen Sphäre der Kapitalverwertung geworden. Da das Gebäude selbst der Zweck der Investition ist, muß jedes Eckchen sorgfältig auskalkuliert und einer kontrollierten Verwertbarkeit unterworfen werden. Zugleich aber werden diese Gehäuse zu besonderen Orten stilisiert, um sie besser vermarkten zu können. Solche Gebäude produzieren nicht „Stadt“, sie nutzen lediglich die sehnsüchtige Erinnerung daran aus, und es entstehen Abziehbilder von Stadt, überdachte, klimatisierte und abschließbare Inseln, deren kontrollierte Räume in den öffentlichen Raum ausgreifen, ihn privatisieren und von allen Unliebsamkeiten des Urbanen reinigen.

    Ortlose Urbanität

    Urbanität ist damit nicht verschwunden, sie ist nur ebenso ortlos geworden wie die moderne Arbeit. Ist damit der Städtebau exkulpiert? Ist es egal, was um die Bahnhöfe, in den neuen Mitten und auf den Industriebrachen geschieht? Urbanität kann man nicht bauen, sie widersetzt sich der zweckvollen Inszenierung und sie entsteht nicht von heute auf morgen. Aber doch hat sie ihre Orte, an denen sie gleichsam materielle Gestalt gewinnt und erlebbar wird. Solche Orte sind oft Ergebnis des Alterns der Stadt, des Zerfalls, der Lücken hinterläßt, in denen urbanes Leben sich breitmachen kann. Dieses Altern oder dieser Zerfall müssen nicht unbedingt physisch sein, sondern – wichtiger noch – sozial, ökonomisch und politisch: Ablösung der Herrschaft, Rückzug der Nutzungen, Auszug der Bewohner, die diese Räume einmal geprägt haben. Die Ritterburgen entlang des Rheins wurden erst romantisierbar, als ihre Herren nicht mehr Herren waren. Nicht die Ästhetik des baulichen Verfalls ist entscheidend für die Stimulanz von Kreativität, die in vielen leergewordenen Fabrikhallen, Schlachthäusern oder alten Gefängnissen anzutreffen ist, sondern der Verfall der Herrschaft dessen, dem diese Gehäuse einmal gedient hatten. Er hinterläßt leere Hüllen, die noch von Macht und Herrlichkeit erzählen oder von Lärm, Ausbeutung und Maloche. Aber die neuen Nutzer sind all dem nicht mehr unterworfen, sie können, was der Machtentfaltung oder der Kontrolle menschlicher Arbeit diente, als ihre Freiheitsräume erfahren. Urbane Situationen entstehen heute in den unausgefüllten Räumen, die noch nicht Gegenstand neuer Verwertung geworden sind. Dadurch werden sie selbst zyklisch: Wo Urbanität an Orte gebunden ist, ist sie zum flüchtigen Wesen geworden.

    Städte erzeugen heute nicht mehr Urbanität, aber sie können ihr Raum lassen durch Orte des Dazwischen, des Übergangs und der Desinvestition. Soho, Greenwich Village, East Village, für eine bestimmte Zeit in der Bundesrepublik war Schwabing ein solcher Ort, dann Kreuzberg, jetzt Prenzlauer Berg. Es sind die Räume, in denen sich meist auch die neu angekommenen Fremden eine erste Wohnung nehmen.

    Solche Räume entstehen besonders in Phasen des Übergangs und des Umbruchs. In solchen krisenhaften Phasen beschleunigten sozialen Wandels beschleunigt sich auch das Altern der Städte. Das 19. Jahrhundert, als die Industriegesellschaft die vormodernen Residenz- und Bürgerstädte sozial und physisch aufbrach, umbaute und erweiterte, war eine solche Phase. Heute, wo die sich zurückziehende Industriegesellschaft überall leere Fabrikhallen und überflüssige Infrastrukturen hinterläßt, hat sich das Altern der Stadt wieder so beschleunigt, daß urbane Räume entstehen können. Das ist in Berlin der Fall, im Ruhrgebiet und überall in den Stadterweiterungsgürteln, die die Industriegesellschaft um die alten Stadtkerne gelegt hatte. Die Planung kann solche Prozesse nur zulassen, aber nur allzuoft verbaut sie sie. Räume des Dazwischen und Zonen des Übergangs zuzulassen und Architekturen zu bauen, die altern können, die Lücken, Zerfall und Zweckentfremdung vertragen, ist das Beste, was die Planung für den Erhalt der urbanen Stadt tun kann.
    Dieser Text stammt aus der Zeitschrift «Alternative Kommunalpolitik», Heft 1/1998, S. 54-59 und ist die gekürzte Fassung eines gleichnamigen Aufsatzes aus der Zeitschrift «Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken», Heft 4/1997, S. 293-307.

    Diese Seite ist Teil des Themenpaketes „Stadtsoziologie“ der Kommunalpolitischen Infothek der Heinrich-Böll-Stiftung, zusammengestellt von der AKP.

    Quelle: © Heinrich-Böll-Stiftung 2000 http://www.kommunale-info.de/Themen/Stadtplanung/urban.htm

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert