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Welchen Sinn hat die Zeitumstellung heute noch?

    Prof. Karlheinz Geißler

    Am 31. Oktober wird um 03.00 Uhr die Uhr um eine Stunde zurückgestellt und von der Sommer- auf die Winterzeit umgestellt. Der Zeitforscher und Professor an der Universität der Bundeswehr München, Karlheinz Geißler steht dieser Prozedur skeptisch gegenüber:

    Jedes Jahr die gleiche Prozedur: Im Frühjahr wird uns eine Stunde genommen und im Herbst wird sie uns wieder zurückgegeben. Das stimmt natürlich nicht. Genommen wird uns gar nichts und geschenkt bekommen wir ebenso wenig. Wir manipulieren, denn wenn wir die Sommerzeit einführen und rückgängig machen, ändern wir zwar die Uhrzeiger aber nicht die Zeit.

    Da wir aber die Uhr so gerne mit der Zeit verwechseln, zumindest hat man uns dies beigebracht, erfreuen wir uns an der Illusion, wir Menschen wären Herren der Zeit, wir könnten über ihren Gang bestimmen, wir könnten sie sparen und die gesparte Zeit später dann leben. Dies ist und bleibt ein Wunsch, ein nicht allzu frommer dazu. Zeit lässt sich entgegen allen Versprechen nicht sparen, sie lässt sich nicht schneller machen, nicht verschenken und auch nicht umstellen. Warum auch? Es gibt nämlich, entgegen anderslautenden Parolen, genug Zeit. Stündlich und täglich kommt neue nach. Was aber machen wir dann eigentlich im Frühjahr und im Herbst? Und warum tun wir das?

    Früher gab es einen Anlass für die Einführung der Sommerzeit. Erstmalig geschah es 1916, also während des Ersten Weltkrieges. Zum zweiten Mal hat sich das Hitlerregime, ebenso in Kriegszeiten (1940), an den Zeigern der Uhren zu schaffen gemacht, und Anfang der Siebziger (1973), im Gefolge der Ölkrise, hat man dann erneut die Standardzeit durch die Sommerzeit unterbrochen. Immer geschah dies mit der Absicht, Energie, speziell Strom, zu sparen. Diesen drei Ereignissen ist gemeinsam, dass sie in Krisenzeiten stattfanden.

    Die Krise war der Anlass für die Uhrzeitmanipulation. Die Uhrumstellung war demnach ein staatliches Kriseninterventionsinstrument.

    Welche Krise aber wird heutzutage bewältigt? Erwünschte Energiesparmaßnahmen, wie immer wieder behauptet aber selten belegt, sind es nicht. Zumal die inzwischen weitgehend privatisierte Energiewirtschaft eher an einem höheren Stromverbrauch interessiert ist, als an dessen Einsparung.

    Was aber ist dann der Grund für die Zeitmanipulationen, die uns zweimal im Jahr unruhig schlafen lassen? Regierungsamtlich wird keiner verlautbart. Die Verantwortung dafür wurde inzwischen auch zum Europäischen Parlament nach Straßburg bzw. Brüssel abgeschoben. Von dort aber hört man auch kein überzeugendes Argument. Zur Krisenintervention kann diese „Zeitstörung“ schon deshalb nicht dienen, weil die Befristung der Sommerzeit seit 2002 nach der „Neunten Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Januar 2001“, aufgehoben wurde.

    Der Stundenklau im Frühjahr und das herbstliche Stundengeschenk werden damit zur unendlichen Geschichte. Jedes Jahr also der gleiche Ablauf – bereits dies belegt, dass die Uhrumstellung kein Krisensymptom mehr ist, ansonsten lebten wir ja in der Dauerkrise. Also wieder mal so eine politische Entscheidung, nach deren Grund man vergeblich sucht. Was also spricht dagegen, sich selbst einen Grund zu suchen? Soviel Freiheit erhält man nur selten geschenkt. Für all jene aber, die keinen finden, ein Angebot: Am Ende der Sommerzeit, jedes Jahr am letzten Oktoberwochenende, bekommt die Zeit, die uns so treu bis zu diesem Termin begleitet hat, eine Stunde lang Zeit um sich endlich mal auszuruhen. In dieser Stunde tritt sie auf der Stelle, entspannt sich von den vielen Anstrengungen und freut sich, dass sie nach einer Stunde wieder gehen kann. Dann darf man ihr zuschauen, das Beste was man machen kann.

    Also vergessen wir die Uhr in dieser Stunde, sie geht sowieso falsch!

    Quelle: Informationsdienst Wissenschaft IDW

    Von Prof. Karlheinz Geißler ist ein neues Buch erschienen:

    Alles Espresso. Kleine Helden der Alltagsbeschleunigung, Hirzel Verlag Stuttgart:

    Kurztext

    Teefix-Beutel, Tempo-Taschentuch, Hochgeschwindigkeits-Zug, Reißverschluss, Fernsteuerung, Suppenwürfel, sogar Postkarte und Lift – ihnen allen ist gemeinsam, dass sie für uns Zeit sparen. Zumindest erwarten wir dies von ihnen. Aber alle Hoffnungen, alle Sehnsüchte, mit ihrer Hilfe von den lästigen Mühen des banalen Alltags entlastet zu werden, sind trügerisch.

    Das Leben wird durch die vielen, kleinen Helden der Alltagsbeschleunigung nicht besser, geruhsamer oder weniger anstrengend. Unentwegt arbeiten wir nämlich daran, unsere Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit zu verdichten. So wird der Alltag zum Hochgeschwindigkeits-Alltag.

    Die Erwartung, durchs höhere Tempo auch mehr von der Welt haben zu können, wird von der Erfahrung geschmälert, dass uns die Welt trotz allem mehr und mehr davonzulaufen scheint. Der Kauf eines Computers zum Zwecke der Zeitersparnis ist daher genauso unvernünftig, wie die Einladung eines Kannibalen zum gemeinsamen Essen. Eine „Würfelsuppe“ verhält sich zur selbstgemachten wie ein Computermenü zu einer mehrgängigen Mahlzeit.

    Professor Karlheinz A. Geißler lebt und schreibt in München. Eine der amüsantesten Erfindungen der Menschheit, die Zeit, hat er zu seinem Lebensthema gemacht. In vielerlei Publikationen (Büchern, Zeitschriftsbeiträgen, Interviews), in Rundfunksendungen und bei Vorträgen hat das seinen Niederschlag gefunden. Zuletzt sind von ihm bei HIRZEL erschienen:

    „Wart‘ mal schnell – Minima Temporalia“ und

    „Zeitvielfalt – Wider das Diktat der Uhr“