Die Utopie-Verdrossenheit von Bewohner*innen
Utopisches Wohnen bleibt zwischen sozialem Wohnungsbau und neuen Technologien auf der Strecke. Doch die architektonischen Visionen sind noch nicht ganz verschwunden.
In einem Interview erklärt Stararchitekt Rem Kohlhaas den Grössenwahn heutiger Architektur mit der Erfindung des Hochhauses im 20. Jahrhundert. Kommerzielle Gebäude würden in der Folge immer seltener für eine bestimmte Nutzung gebaut, sondern einfach so gross wie möglich. Die Funktion des Baus und die Nutzer*innen würden nicht mehr bedacht. „Man vertraut darauf, dass sich die Gebäude von selbst mit Sinn füllen“ (Kohlhaas 2011). Ähnlich verhält es sich mit Wohngebäuden: die Architektur ist uninspiriert, uniform und wenig emanzipativ.
Dabei wäre aus technischer und technologischer Sicht so vieles möglich: Industrieroboter und digitale Technologien ermöglichen Formen, die von Hand nicht gezeichnet werden können. Selbst mit Sinn befüllt sie sich deshalb aber nicht. Wie könnte emanzipatives Wohnen heute aussehen? Inspiriert von architektonischen Entwürfen aus den 1970ern und einer Denkweise, die Technik und Mensch nicht in Opposition verstehen, schlagen wir vor, das emanzipatorische Potential von Smart Homes neu zu denken und für ein besseres Leben zu beanspruchen.
Heute wohnen wie gestern
Der Pragmatismus von Architekt*innen heute ist eklatant: Nach ihren Visionen für das Wohnen der Zukunft befragt, zeigen sie sich zumindest überrascht; ihre Antwort führt zuerst in die Vergangenheit: In der Gründerzeit hätte man ja schon vieles richtig gemacht – schöne Räume, natürliche und langlebige Materialien, die Kälte und Wärme absorbieren und keinen Sondermüll hinterlassen, wenn das Gebäude mal zu-rückgebaut oder gesprengt werden muss. Unterschiedliche Lebensmodelle finden darin den passenden Wohnraum. Familien, aber auch Singles und Wohngemeinschaften lassen sich hier unterbringen.
Das klingt doch nachhaltig und flexibel. Was gibt es also daran auszusetzen? In der Tat hat sich gerade seit den 1970er und 80er Jahren in Bezug auf die Energieeffizienz von Gebäuden viel getan. Wärmedämmungen sind optimiert, Heizsysteme angepasst und Baustoffe verbessert worden. In Bezug auf die Lebensverhältnisse von Menschen, bleiben die Ansprüche aber rückwärtsgewandt: Ein Gebäude im Stil der Gründerzeit soll das Wohnen der Zukunft sein? Die Ansprüche bleiben wortwortwörtlich auf dem Teppich: Drei Zimmer, Küche, Bad. Grundlegende Fragen danach, wie wir leben wollen, werden darin nicht verhandelt.
Missstände nicht nur hinzunehmen, fordert 1918 schon Ernst Bloch in seinem Buch „Geist der Utopie“. Er plädiert für eine Umwälzung unserer Wirklichkeit, damit aus ihr eine gute, humane, dem Menschen erträgliche und endlich für den Menschen gebaute wird: „Drum: Nie genug konkrete Utopie!“ (Gespräch im Süddeutschen Rundfunk 1976). Für die Architektur übersetzt hiesse das, beim Bau eines jeden neuen Wohnorts aufs Neue beseelt zu sein von dem Wunsch, dem Menschen eine Umwelt zu schaffen, die sie nicht unterdrückt, sondern ihm ein Leben in Freiheit verspricht. Denn Architektur spiegelt Gesellschaft nicht nur wieder, sondern beeinflusst Lebensweisen ganz konkret.
Sie leitet, wo und wie Menschen sich bewegen können, ob und in welcher Form Menschen aufeinandertreffen und ermöglicht oder beschränkt Handlungsweisen. Architektur ist sozialkonstitutiv. Neue Bauweisen können bestehende Werte und Normen in Frage stellen und Emanzipatorisches ganz konkret in Gebautes übersetzen. Auch wenn sich nie vorhersehen lässt, ob sich dieses Potential schliesslich erfüllt – selbst wenn das ‚ideale Haus‘ oder gar die ‚ideale Stadt‘ gebaut ist. Architektur hat deshalb einen wichtigen Anteil beim Nachdenken über eine bessere Zukunft. Von der architecture parlante zur Hochphase utopischen Entwerfens
Im ausgehenden 18. Jahrhundert träumen Künstler*innen und Architekt*innen von einer autonomen Architektur, die alle bis dahin gültigen ästhetischen Traditionen über Bord wirft: Rhythmus, ausgewogene Proportionen und harmonisch aufeinander abgestimmte Bauteile verlieren an Bedeutung. Architektonisch wird mit neuen Formen und baulichen Dimensionen experimentiert. Die sogenannte architecture parlante entsteht – eine sprechende Architektur, in der sich die Funktion eines Gebäudes unmittelbar mitteilen soll. Auf plakative Art bildet sie den Zweck des Gebäudes und seine Besitzer*in ab. Utopisch ist die architecture parlante aber vor allem für Architekt*innen selbst, die eine neue und radikale Formensprache abseits gängiger Konventionen ausprobieren und die Grenzen des Machbaren ausdehnen.
Einen Schritt weiter Richtung geht der sozialistische Theoretiker Charles Fourier im frühen 19. Jahrhundert. Er entwirft das sogenannte Phalanstère, ein riesiges Gemeinschaftsgebäude, in dem ca. 1.500 Menschen zusammenleben sollen. Das Phalanstère ist als Palast für die arbeitende Klasse gedacht – die baulichen Ausmasse sind an das Versailler Schloss angelehnt. Neben einer Vielzahl an Einzel- und Mehrpersonenwohnungen, beherbergt das gigantische Gebäude gemeinsame Aufenthalts- und Speiseräume, aber auch Bildungseinrichtungen wie Bibliotheken, Schulen und Werkstätten.
Der Grundriss entspricht den Prinzipien des Zusammenlebens: kollektives Eigentum, Solidarität, Vergemeinschaftung der Reproduktionsarbeit und sexuelle Freiheit. Ehen oder Kernfamilien sind nicht vorgesehen – Mann und Frau sollen als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft fungieren. Das Konzept scheitert jedoch in der Praxis, deren Alltag scheinbar doch nicht so einfach gemeinschaftlich zu organisieren ist. Fällt beispielsweise die Ernte aus, ist die Arbeit ungleich verteilt, das gemeinschaftliche Zusammenleben auf eine harte Probe gestellt. Autoritäten und Hierarchien kann auch das Phalanstère schliesslich nicht vermeiden.
Im 20. Jahrhundert sind es vor allem die 1960er und 70er Jahre, in der eine Reihe utopischer Entwürfe entstehen. Zu der Zeit sind es vor allem Kollektive von Architekt*innen, wie Superstudio oder Archigram, die durch neu entwickelte Technologien versuchen, radikal anders über das Thema Stadt nachzudenken. Das herkömmliche Haus löst sich in ihren Entwürfen fast komplett auf: Megastrukturen, die sich wie ein Netz über die Landschaft legen sollen die wachsende Bevölkerung mit Wohnraum versorgen. Häuser, aber auch ganze Stadtteile sollen wie Fahrzeuge bewegbar werden. Die Entwürfe sind in vielerlei Hinsicht visionär, beruhen aber letztlich auf einer verkürzten Vorstellung vom Menschen: Arbeiten, essen und schlafen sind die Bedürfnisse, die es zu befriedigen gilt. Möglichst platzsparend werden Bett, Kochnische und Toilette in die Form einer Wohnkapsel eingefügt. Im Ergebnis ähneln diese Wohnkapseln eher Gefängniszellen, die ein Existenzminimum abdecken, als Wohnorten, die eine neue Freiheit ermöglichen.
Die Utopie-Verdrossenheit von Bewohner*innen
Die heutige „Utopie-Verdrossenheit“ beschränkt sich natürlich keineswegs nur auf Architekt*innen. Auch Bewohner*innen scheinen sich kaum vorstellen zu können, wie sich Wohnen anders gestalten liesse. In den Grundzügen hat sich seit den 1950er Jahren zumindest nicht sonderlich viel verändert. Eigentlich habe sich, so die Designerin Alexandra Deschamps-Sonsino zynisch, genau drei Mal etwas getan: mit der Einführung des Badezimmers, der Einrichtung separater Schlafzimmer und schliesslich im Zuge der Ausrichtung der Möbel Richtung Fernseher (Deschamps-Sonsino 2018: xvi). Grosse Revolutionen haben sich nicht abgespielt. Das ist insofern verwunderlich, als dass dem Bauen heute aus technischer Sicht wenig Grenzen gesetzt sind.
Verwunderlich ist der Mangel an utopischen Entwürfen auch insofern, als dass Tätigkeiten, die mit dem Haus als Lebensort verbunden sind, so ziemlich alle Menschen betreffen. Der potentielle Absatzmarkt für Innovationen dürfte also riesig sein, trotzdem hält sich das Interesse in Grenzen. Eine Erklärung dafür bietet Cynthia Cockburn in ihrem 1997 erschienenen Artikel „Domestic technologies: Cinderella and the engineers“ an. Der Grossteil der (meist männlichen) Entwickler scheint schlichtweg nicht daran interessiert zu sein, sich mit den ‚Cinderella-Technologien‘, wie Cockburn sie nennt, zu befassen. Viele der Geräte, die wir heute im Haushalt nutzen, sind dieselben wie vor siebzig Jahren. Innovationen beschränken sich zumeist auf Farbgebung und Materialnutzung.
Das Smart Home als Hoffnungsträger?
Mit dem Smart Home ist 1984 ein neuer Begriff und eine neue Technologie entstanden, die Hoffnungen wecken könnte. In der Praxis bezieht sich die „Smartness“ aber vor allem auf die Vernetzung bereits bestehender Funktionen. Smart sind dann etwa voreingestellte Licht-Settings, automatisierte Heizfunktionen oder eine dauerhafte Kameraüberwachung, um für mehr Sicherheit zu sorgen. Smart Homes sind also nicht smart, weil sie besonders gut gebaut sind oder einen alternativen, besonders smarten Lebensstil ermöglichen, sondern eine Marketingstrategie, die interaktive Technologien in konservativer Architektur bezeichnen.
Das Versprechen zu einem Mehr an Komfort und Nachhaltigkeit sieht dabei im Vergleich zu den Science Fiction Utopien aus den 1960er Jahren ziemlich blass aus. Die US- amerikanische Zeichentrickserie The Jetsons zum Beispiel stellt ein zukünftiges Wohnen vor, bei dem Jane Jetson, die Frau des Hauses, entspannt in einem Sessel durch den Raum fliegt, während Frühstück, Wäsche und Versorgung der Kinder vollautomatisiert ablaufen. Ein Roboter kümmert sich um die lästige Arbeit, die im Haushalt anfällt.
Vielleicht hat das bisherige Ausbleiben gesellschaftlicher Revolutionen in der Architektur zu der nüchternen Einstellung heutiger Architekt*innen geführt. Viel zu oft wurden die Hoffnungen auf eine bessere, neue Welt scheinbar enttäuscht, als dass sich grosse Visionen umgesetzt hätten: Die architecture parlante hat weniger an der bestehenden Ordnung gerüttelt, als den status quo zementiert, das Phalanstère keine neue hierarchiefreie Gemeinschaft geschaffen und die Wohnkapsel bleibt letztlich die deprimierende Antwort auf eine real existierende Wohnungsnot.
Aktuelle Smart Homes reihen sich hier nahtlos ein. Deschamps-Sonsino bringt es auf den Punkt, wenn sie auf Smart Home Visionen aus den 90er Jahren verweist: „Es ist fast schockierend zu sehen, wie wenig sich seit der Veröffentlichung dieser Ideen geändert hat“ (2018: 76). Die Gründe dafür sieht sie in einem Mangel an Inspiration, der nicht nur die Menschen reflektiere, die sich mit der Entwicklung von Software befassen, sondern auch mit deren stereotypen Konzeptionen von dem, was zuhause passiert. Scheinbar haben die Smart Homes von heute anderes im Sinn, als Frauen von der häuslichen Reproduktionsarbeit zu befreien.
Optimismus mit Mark Fisher und Donna Haraway
Der britische Theoretiker Mark Fisher warnt dennoch davor, das Handtuch zu werfen: „Anstatt eine trübsinnige, reaktionäre Rückkehr zum Lokalen oder zum Vorkapitalistischen anzubieten, können wir den Kapitalismus als Barbarei betrachten, die den Übergang zum Kommunismus blockiert. Anstatt von den Menschen zu verlangen, die hochtechnisierte Moderne hinter sich zu lassen, sollten wir uns dafür einsetzen, dass der Postkapitalismus alles bieten wird, was die Menschen heute auch nutzen, z.B. Flughäfen, Supermärkte und Cafés – aber in neuen, verbesserten und bislang noch unvorstellbaren Formen“ (Fisher [2009] 2013: 112). Andere Modelle wären durchaus vorstellbar: In ihrem viel besprochenen Cyborg Manifesto zeigt Donna Haraway, wie sich techno-optimistische Visionen jenseits von kulturpessimistischen Befürchtungen denken lassen.
Ihre Cyborgs – Hybride aus Menschen und Maschinen – sind „über-zeugte Anhänger[innen] von Partialität, Ironie, Intimität und Perversität“. Sie sind „oppositionell, utopisch und ohne jede Unschuld. Cyborgs sind nicht mehr durch die Polarität von öffentlich und privat strukturiert, sondern definieren eine technologische Polis, die zum grossen Teil auf einer Revolution der sozialen Beziehungen im oikos, dem Haushalt, beruht“ (Haraway [1985]: 2). In der Folge ist weder die Reproduktion, noch die damit verbundene Reproduktionsarbeit notwendig an Frauen gebunden.
Was könnte das in Bezug auf Wohnverhältnisse konkret bedeuten? Welche Formen werden vorstellbar, wenn verfügbare Technologien weniger als Feind, sondern als Chance zur Verbesserung der Lebensumstände begriffen werden? Dafür ist ein Blick auf die aktuelle Nutzung der Daten in Smart Homes notwendig: Die Anbieter von Smart Homes übersetzen Sachverhalte in Zahlenwerte, die vom Privaten der Wohnung nach Aussen, also die Firmenzentrale, weitergeleitet werden. Das kann der Energieverbrauch sein, aber auch Daten darüber, ob und wo Personen sich wie lange in der Wohnung aufhalten. In ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ beschreibt die Ökonomin Shoshanna Zuboff, wie so die private menschliche Erfahrung zum Rohmaterial für die kapitalistische Produktion wird. Die Ausbeutung von Menschen basiert also nicht mehr auf deren Arbeit, sondern der menschlichen Erfahrung an sich.
Den einzigen Ausweg aus diesem Überwachungskapitalismus sieht Zuboff darin, die Produktion von Daten zu unterbrechen oder zu verbieten. Wichtiger als diese Massnahme scheint in einem ersten Schritt die Frage, wer welche Daten zu welchem Zweck benutzt. Will man die Sehnsucht nach vermeintlich objektiven quantifizierten Daten befriedigen, liessen sich dann vielleicht andere Wege finden, Daten aus der vermeintlichen Privatsphäre des Wohnens nach aussen zu tragen, die Ungleichheiten, z.B. entlang von Geschlechterlinien, verringern könnten. Was wäre z.B., wenn nicht nur der Energieverbrauch, sondern auch die mit Haushaltstätigkeiten verbrachte Zeit quantifiziert würde? Der Anteil an der Betreuung von Kindern? Also die unbezahlte und häufig unsichtbare Arbeit sichtbar gemacht würde, die in Wohnungen stattfindet. Vielleicht kann das Smart Home dann vom Überwachungskapitalisten zum effektiven Gleichstellungsagenten werden.
Smart Living mit Renée Gailhoustet
Löst man sich von technologiekritischen Dystopien, lassen sich Ansatzpunkte für ein neues Wohnen finden, das Sachzwänge abschaffen und Raum für ein gutes Leben bereitstellen kann. Die Technologien dafür sind vorhanden und können vielleicht sogar dabei helfen, Ungleichheiten abzuschaffen, indem sie diese sichtbar machen. Zum Beispiel in Form der Aufzeichnung von unbezahlter Reproduktionsarbeit zuhause, die überwiegend immer noch von Frauen geleistet wird. Diese könnten beispielsweise durch moderne Arbeitszeiterfassungen nicht nur am Arbeitsort, sondern auch zuhause besser verhandelt werden. Als eine Art zweite Haut für seine Bewohner*innen, könnte der Wohnort dann mehr sein als eine Hülle, die nur die Grundbedürfnisse nach Wärme, Wasser und Licht zu befriedigen weiss. Vorbilder für die architektonische Umsetzung anderer Lebensstile sind bereits da, werden aber wenig wertgeschätzt, oder vergessen.
Die französische Architektin Renée Gailhoustet etwa baut in den 1970er Jahren eine Reihe von Sozialbauten, die noch heute in den sonst unbeliebten banlieues von Paris stehen. Skulpturale Architekturen, die keiner klassischen Typologie folgen, sondern an aus Stein und Beton geformte Hügel oder Berge erinnern. Zu jeder Wohnung gehört eine bepflanzte Terrasse oder ein kleiner Garten, der die Selbstversorgung, aber auch etwas Natur, mitten in der Stadt möglich macht. Im Erdgeschoss befinden sich Läden, Werkstätten, Bibliotheken, Gemeinschaftsräume – ein lebensermöglichender und – erweiternder Gegenentwurf zu den zellenartigen Massenwohnungsbauten, die sonst als Sozialwohnungen geplant werden.
Die riesigen, verwinkelten Betonpyramiden schaffen in der Stadt eine Insel, die eine dörfliche Idee von Gemeinschaft ohne klaustrophobische Züge etabliert: Ein grossstädtisches Versprechen, befreit von der Anonymität sonstiger Sozialbauwohnungen. „Alles, was die moderne Stadt abgeschafft hatte, das Nebeneinander von Arbeiten und Wohnen, Plätze, auf denen Kinder gefahrlos spielen können, kleine Gärten, Gemeinschaftsräume für Nachbarschaftlichkeit, kleine Läden, ist wieder da“ (Maak 2017). Über kleine Gassen und Treppen gelangt man auf die unterschiedlichen Ebenen des Bauwerks, auf denen sich immer neue Ausblicke auf die Umgebung und die vielen Gärten ergeben. Die Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Bereichen verschwimmen, ohne dass dabei intime Rückzugsmöglichkeiten verloren gehen. Verzweigungen, Wege und Plätze machen Begegnungen möglich, aber erzwingen sie nicht.
Gerade in der Auflösung traditioneller Dichotomien von privater und öffentlicher Sphäre liegt die Chance besseren Wohnens. Damit ist nicht gemeint, sich die Büroarbeit ins Bett zu holen oder sich die Arbeitswelt einzurichten wie das eigene Wohnzimmer. Vielmehr, wie Niklas Maak es fordert, Privatsphäre radikal neu zu denken. Das Private ist dann nicht mehr das letzte Refugium vor den Zumutungen der Öffentlichkeit, sondern der Ausgangspunkt für ein positives Verständnis von Öffentlichkeit.
Architektonisch übersetzt könnte das heissen: kleine private Rückzugsorte und grössere, Bereiche, die der Gemeinschaft zugänglich sind. Diese öffentlichen Bereiche, heute vielleicht noch Wohn- oder Esszimmer, wären dann ein Ort, an dem andere Menschen willkommen sind. Die Forderung der Parole „Das Private ist politisch!“, könnte so baulich umgesetzt werden. Öffentliche Räume wären dann nicht mehr der traurige Rest dessen, was übrig bleibt, wenn jede*r versucht sich möglichst viel Wohnraum zu eigen zu machen, sondern könnte ein positiv besetzter Ort der politischen Artikulation werden. Dann heisst die Auflösung von Privatem und Öffentlichem nicht, die Grenzen zwischen kommerziellen und nicht-kommerziellen Zonen zu verwischen, sondern sich entscheiden zu können, in welcher Form der Gemeinschaft wir uns bewegen möchten. Die Entscheidung, ob wir Ruhe brauchen oder uns unter Menschen begeben wollen, wird durch die Architektur ermöglicht.
Architektur kann ein Mittel sein, um Privates und Öffentliches neu zu denken. Wenn die digitale Zukunft ein Zuhause sein soll, so Shoshanna Zuboff, liegt es an uns, sie dazu zu machen. Die technischen Möglichkeiten dafür sind längst da: Smarte Technologien könnten „private“ Bereiche der Wohnung, in denen patriarchale Strukturen sich bislang versteckt fortsetzen können, sichtbar machen; architektonische Entwürfe dabei helfen, passende, bauliche Einbettungen zu finden, die ein ideales Leben nicht von selbst schaffen, aber zumindest wahrscheinlicher werden lassen. Sie müssen nur gedacht, gebaut und genutzt werden – von Architekt*innen, Bewohner*innen und nicht- kommerziellen Technologieanbietern.
Quelle: untergrundblättle, 24.09.2019