Von Matthias Brendel – Frankfurter Rundschau vom 30. März 1999
„Kein Deich – kein Land – kein Leben“ (Albert Brahms, Pionier des Deichbaues in Ostfriesland, 1692-1758)
Dem freien Spiel der Kräfte hatten die Friesen ihr Schicksal lange genug über-lassen. Hunderte von Jahren siedelten sie im tiefen Land. Vor den regelmäßigen Fluten schützte sich ein jeder, so gut er eben konnte. Eine Herde abgesoffenes Vieh, ein paar Ertrunkene von den kleinen Katastrophen abgesehen lief alles recht und schlecht, bis die große Flut vom 16. Januar 1362 die Küste überrannte. Binnen einer Nacht zeichnete die Nordsee die Landkarte neu, schätzungsweise 100000 Menschen kamen dabei ums Leben.
Die Katastrophe bewirkte einen wichtigen und notwendigen Einschnitt in Geschichte und Kultur des verbliebenen Nord-, Ost- und Westfrieslands: Die Menschen begannen verstärkt, die gefährlichen Fluten mit Deichen zu bändigen.
Leicht war das nicht, und zahlreiche Unglücke belegen, welch hohen Blutzoll die Friesen für ihre Fehler zahlen mußten. Es ist das Verdienst des Deichbau-Pioniers Albert Brahms, daß er versuchte, die Fluten zu verstehen. Ihrem scheinbar willkürlichen Wesen setzte er ein gut durchdachtes System von Dämmen entgegen. Der Mensch gewann. Gewann? Die Deiche halten. Noch.
Es war nicht das erste Mal, daß Menschen steuernd und für sie nutzbringend in Ökosysteme eingriffen. Komplexe, scheinbar unregierbare Vorgänge zu erkennen und zum eigenen Vorteil zu steuern ist eine Jahrtausende alte Kunst, die mit Ackerbau und Viehzucht erfolgreiche begann. Dennoch steckt die Erkundung dieser gestalterischen Möglichkeiten, ihrer Wirkweise und ihrer Grenzen noch in den Kinderschuhen. Nur wenige Lehrstühle im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich überhaupt mit Systemforschung; darunter sind Professor Hans-Joachim Schellnhuber vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung und sein Kollege Michael Hauhs vom Bayreuther Institut für terrestrische Ökosystemforschung. Beide Wissenschaftler verfolgen unterschiedliche, jedoch wegweisende Ansätze. Während sich Hauhs besonders mit der Analyse von lokalen Waldökosystemen beschäftigt, wählt Schellnhuber unter dem Schlagwort „Geokybernetik“ einen eher perspektivischen Ansatz.
Das Futter und die Fresser
Von einem noch immer unter vielen Umwelt- und Naturschützern verbreiteten Mythos haben sich sowohl Hauhs als auch Schellnhuber dabei längst verabschiedet: Daß sich alles schon zum Guten wenden werde, wenn man die Natur nur ließe. Jene unsichtbare, alles ordnende Hand, welche der Nobelpreisträger Milton Friedman im sich selbst überlassenen Weltwirtschaftssystem geortet haben will, im wirklichen Lehen existiert derartiges garantiert nicht.
Das wechselnde Angebot von Futter und Fressern kann natürliche Systeme durchaus ändern und frühere Funktionen zerstören: Nur im Idealfall lebt die große Herde Schafe in Harmonie mit dem Wolf, aus welcher dieser nur die jeweils kranken, schwachen, alten oder sonstwie nicht lebensfähigen Tiere reißt, [im so den Gesamtbestand der Art zu sichern. Dieses Prinzip funktioniert solange, wie der Krankenstand der Schafe genau mit dem Nahrungsbedarf des Wolfes korreliert. Diese Situation kann aber nur zufällig und immer nur für kurze Zeit eintreten. Eine Seuche unter den Schafen hervorgerufen etwa durch einen von Vögeln eingeschleppten Erreger kann das Nahrungsangebott daran, den Ausstoß der Grube im 19. Jahrhundert rasant zu erhöhen, als mit der Eisenbahn ein geeignetes Mittel für den Antransport von Kohle und Abtransport der Metalle zur Verfügung stand. 1988 war die Mine Rammelsberg erschöpft und wurde geschlossen.
„Die materiellen Ziele der Menschen und die ihnen zur Verfügung stehenden Technologien bestimmen die Geschwindigkeit des Wirtschaftens“, schließt daraus Hauhs. Dabei ist der Mensch aufgrund der gemeinsamen Naturgeschichte stets in die Abhängigkeit von Ökosystemen eingebunden geblieben. Und erschrocken betrachtet er sein Werk: „Naturschutz und die Bewahrung von nutzbarem Naturpotential ist in diesem Sinn ein aktuelles Ziel, das typisch für Anschauungskulturen ist“, erklärt dies der Bayreuther Forscher. Gleichzeitig wendet sich Hauhs gegen eine Unterscheidung zwischen natürlichen und kulturellen Systemen: „Diese Differenzierung verstärkt oft nur Mythen über ,natürliche‘ Ökosysteme und deren Möglichkeit, ihre eigene Stabilität zu organisieren.“
Hier wird ein gravierender Konflikt zwischen Naturschutz und Umweltschutz deutlich: Während ersterer die Bewahrung oder Rekonstruktion sich ändernder und mangels menschlicher Kompetenz wohl nicht rekonstruierbarer Systeme postuliert, stellt Umweltschutz die tiefere Bedeutung des Begriffes „errät es den Mensch in den Mittelpunkt seiner Bemühungen. Das Ziel von Umweltschutz ist in erster Linie eben die Erhaltung menschengerechter Lebensbedingungen. Ob diese in Deichbau münden oder aber in das Einreißen zu vieler Dämme, ist das Ergebnis kluger menschlicher Steuerung und nicht einer rechtschaffenen Philosophie.
Auch für Hans Joachim Schellnhuber ist das Thema Systemsteuerung keine Frage des „ob“, sondern des „wie“: Um letztlich erfolgreich zu bestehen, propagiert Schellahuber das System der „Fuzzy-Control“. Diese wiederum basiert auf dem Prinzip eines grob gesetzten Plans, welcher nur durch ständige Neu-Entscheidungen eneichbar wird: Der Mensch als mit einem ungefähren Ziel ausgestatteter „Pacman“‚ der auf der Flucht vor seiner Vernichtung ziemlich orientierungslos ein Labyrinth durcheilt und seine Haut nur rettet, indem er sich auf immer neue Bedrohungen und Chancen – einrichtet. Ein auf den ersten Blick eingängiges Vorgehen, dessen erfolgreiche Umsetzung allerdings auf komplexer Informationsverarbeitung beruht. „Die richtige Verknüpfung von Panorama-Blick und lokaler Information erlaubt es, klug und chancenorientiert auf Sicht zu steuern“, erklärt Schellnhuber.
Eine Aufgabe für die UN
Michael Hauhs möchte zunächst die bestehenden Kenntnisse über natürliche Systeme durch gezielte Simulationen erweitern, um so eine „Integration von Erklärungs- und Gestaltungskompetenz von Ökosystemen zu erreichen“. Für die unverzichtbare Einbindung von Erfahrungswissen der Praktiker in die lokale Systemanalyse stelle „interaktive Simulation eine neue Kommunikationsbasis dar“, so Hauhs. Mühsam erworbene Erfahrung im Hinterkopf, die aktuelle Situation vor Augen und die Möglichkeiten moderner Computertechnik schaffen gemeinsam eine brauchbare Entscheidungsgrundlage.
Schellnhuber geht einen Schritt weiter. Er fordert, die Befugnis über die Eingriffsrechte des Menschen in die Natur einer supranationalen Behörde zu übergeben, die aus den Vereinten Nationen entstehen könnte. „Allons corriger le futur!“, lautet die Botschaft des Geokybernetikers.
Weitere Infos zum Deichbau an der Nordseeküste: Sielhafenmuseum in Carolinensiel, 04464 /456, Buchtip: Hans-Janchim Schellnhuher, Volker Wenzel: „Earth System Analysis“, Springer Verlag Berlin l Heidelberg 1998, 63,13 Euro.
http://www.bitoek.uni-bayreuth.de/PlainHTML/News/fuzzy.html