Eine alte Frau starb. Engel brachten sie vor den Richterstuhl. Man fand jedoch keine einzige barmherzige Tat. Nur einmal hatte sie einem hungrigen Bettler eine Karotte gegeben.
Eine einzige liebevolle Tat wiegt jedoch sehr viel. Die Karotte wurde dem Gericht vorgeführt und der Frau übergeben. Im gleichen Augenblick, als sie sie ergriff, begann die Karotte, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, aufzusteigen und trug die Frau mit sich gen Himmel.
Ein Bettler tauchte auf, klammerte sich an den Saum ihres Kleides und wurde mit ihr zusammen hochgehoben. Ein Dritter fasste den Fuß des Bettlers und schwebte hinan. Bald hing eine lange Menschenkette an dieser Karotte. Das Gewicht der vielen Leute, die sich an ihr festhielten, spürte die Frau jedoch nicht.
Immer höher stiegen sie, bis sie beinahe das Himmelstor erreicht hatten. Da schaute die Frau zurück, um noch einen letzten Blick auf die Erde zu tun, und sah das ganze Gefolge. Empört rief sie mit gebieterischer Handbewegung: „Macht, dass ihr wegkommt, alle! Das ist meine Karotte!“
Bei dieser herrischen Geste musste sie die Karotte einen Augenblick loslassen – und stürzte mit ihrem ganzen Tross in die Tiefe. Alles Übel auf der Welt hat nur eine Ursache: „Das gehört mir!“
Entnommen aus: Anthony de Mello: „Geschichten, die gut tun – Weisheit für jeden Tag“, Herder Freiburg 2001, S. 135