Gefunden bei Leo A. Nefiodow: Der sechste Kondratieff*
Ärzte und Psychologen beschäftigen sich fast ausschließlich mit kranken Menschen und den Ursachen von Krankheiten. Abraham Maslow, einer der einflußreichen Psychologen des 20. Jahrhunderts, hat sich einmal die Frage gestellt, warum gesunde Menschen so wenig beachtet werden. Vielleicht könne man von ihnen Erkenntnisse gewinnen, um seelisch gesünder zu werden.
So startete er eine Untersuchung über mehrere Jahre, um das Wesen der Gesundheit an gesunden Menschen zu erforschen. „Als ich begann, die psychische Gesundheit zu untersuchen, wählte ich die hervorragendsten und gesündesten Personen aus, die besten Exemplare der menschlichen Art, die ich finden konnte, und untersuchte ihre Eigenschaften. Sie waren sehr anders, in mancher Hinsicht überraschend anders als der Durchschnitt“ (Maslow 1962; 9).
Seine Ergebnisse waren beeindruckend (Maslow 1977; 216-257). Gesunde Menschen zeichnen sich durch die folgenden gemeinsamen Merkmale aus:
» Sie besitzen eine bessere Wahrnehmung der Realität
Fähigkeit, Menschen und Sachverhalte richtig zu beurteilen.
» Sie können sich selbst, andere und die Natur akzeptieren
Mangel an Schutzfärbung, Verteidigung oder Pose. Abneigung gegen Gekünsteltheit, Lüge, Heuchelei, Eindruckschinden
» Sie besitzen Natürlichkeit, Spontaneität und Einfachheit
Läßt sich durch Konvention von wichtigen Aufgaben nicht abhalten.
Bescheidenheit.
» Sie sind problemorientiert
problem- und sachorientiert, nicht ich-orientiert.
» Sie haben ein Bedürfnis nach Privatheit
Ohne Unbehagen einsam sein Können
» Sie sind autonom, aktiv und wachstumsorientiert
Unabhängigkeit von der physischen und sozialen Umwelt. Antrieb durch Wachstums- und Leistungsmotivation.
» Sie besitzen eine unverbrauchte Wertschätzung
Grundlegende Lebensgüter werden mit Ehrfurcht, Freude, Staunen geschätzt
» Sie wurden von mystischen Erfahrungen geprägt
Ich-Verlust und Erfahrung der Transzendenz
» Sie besitzen Gemeinschaftsgefühl
Tiefes Gefühl der Identifikation, Sympathie und Zuneigung
» Sie können die Ich-Grenze überschreiten
Intensive interpersonelle Beziehungen
» Sie haben eine demokratische Charakterstruktur
Freundlicher Umgang mit Menschen ungeachtet der Klasse, Rasse, Erziehung, Glaubens.
» Sie besitzen eine starke ethische Veranlagung
Feste moralische Normen. Keine chronische Unsicherheit hinsichtlich des Unterschieds zwischen richtig und falsch.
» Ihr Humor ist philosophisch, nicht feindselig
Sie lachen nicht über feindselige, verletzende oder Überlegenheitswitze
» Gesunde Menschen sind ohne Ausnahme kreativ
Sie leisten Widerstand gegen Anpassungsdruck.
Der Zusammenhang zwischen Spiritualität und Gesundheit
Ich habe viele Lektionen von diesen Leuten gelernt“ schreibt Maslow, „aber eine ist hier von besonderer Bedeutung: Ich fand, daß diese Menschen häufig berichteten, so etwas wie mystische Erlebnisse gehabt zu haben (peak experiences), Momente von tiefer Ehrfurcht. Momente intensivsten Glücks oder sogar der Verzückung, Ekstase oder Seligkeit. Ich sage Seligkeit, weil das Wort Glück manchmal zu schwach ist, um diese Erfahrung zu beschreiben“(Maslow 1962; 9).
Maslow war weder Mystiker noch ein besonders frommer Mensch. Er war durch und durch Wissenschaftler. Die Begegnung mit den spirituellen Erfahrungen der untersuchten Personen war für ihn Zunächst Neuland. „Das Wenige, das ich bis dahin über mystische Erfahrungen gelesen hatte, brachte sie mit Religion in
Verbindung, mit Visionen des Übernatürlichen. Und wie die meisten Wissenschaftler hatte ich ungläubig die Nase darüber gerümpft und alles als Unsinn abgetan, als Halluzination oder Hysterie vielleicht, als höchstwahrscheinlich pathologisch … Aber die Menschen, die mir das erzählten oder über solche Erfahrungen schrieben, waren nicht krank. Es waren die gesündesten Menschen, die ich finden konnte“ (Maslow 1962; 10).
Literatur
Maslow 1962: Lessons from the peak experiences. In: Journal of humanistic psychology
Maslow 1977: Motivation und Persönlichkeit. Olten
*) Leo A. Nefiodow: Der sechste Kondratieff – Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information – Rhein-Sieg-Verlag 1996