Zum Inhalt springen

Die Anarchie des Gehens

    Ich finde, dass in der Langsamkeit der Bewegung Sprengkraft liegt.“

    „Ordnungshüter haben offenkundig die subversive Kraft des Spaziergangs erkannt. Wer seine Wahrnehmung schärft und sehenden Auges durch den Raum spaziert, wird urteils- und kritikfähig“

    Spazieren in der Stadt

    Spazierengehen im urbanen Raum kann viele Gedanken hervorrufen: über Stadtentwicklung, soziale Normen, Mode oder Autos. Am besten, man zieht die Laufschuhe an und probiert es einfach mal aus.

    Flanieren in der Stadt heißt, sich in einem dauerbeschleunigten Umfeld langsam zu bewegen. Sich rauszunehmen, aber gleichzeitig die Dichte und das Tempo zu genießen.

    „Es hängt einfach mit der Unterschiedlichkeit der Dynamik im urbanen Raum eng zusammen, also nur dadurch dass es eben diese Beschleunigungsphänomene gibt, nur dadurch dass es megalomane Explosionen im Architektonischen gibt, und da ließen sich jetzt verschiedene andere Aspekte noch unterbringen, nur dadurch ist das Flanieren, was es ist.“

    Sagt der Performer und Philosoph Thomas Schütt. Gemeinsam mit der „Trainerin für die Kunst des Gehens“ Elke Schmid hat er die sogenannte „Écoleflâneurs“ entwickelt – ein Projekt, mit dem sie anderen das Flanieren nahe bringen wollen. Beide treffe ich in einem Café in Berlin Mitte. Auf ihrer Visitenkarte prangt in Rot eine Schildkröte mit einer Ladung Dynamit auf dem Rücken.

    „Ich finde, dass in der Langsamkeit der Bewegung Sprengkraft liegt.“

    Sagt Elke Schmid. Die Schildkröte – keine Schnecke, wohlgemerkt – geht zurück auf ein Zitat Walter Benjamins: angeblich hätten flanierende Adlige im 19. Jahrhundert ihre zur Schau getragene Muße mit einer angeleinten Schildkröte auf die Spitze getrieben. Statt Schildkröten verteilen Schütt und Schmid bei ihren geführten Flaniergängen signalrotfarbene Spazierstöcke, die als Taktstöcke das langsame Gehen unterstützen sollen.

    Schmid: „Ich denke, je schneller du gehst, desto mehr nimmst du nur das Hässliche wahr. Wenn du langsam gehst, also wie beim Flanieren, transformiert sich Vieles auch in was Schönes oder du entdeckst plötzlich was Schönes in Kleinigkeiten, die du so gar nicht siehst.“

    Eine Szene in dem Film American Beauty zeigt ein Beispiel einer solchen ästhetischen Transformation: die vor einem Garagentor im Wind herumwirbelnde weiße Plastiktüte, die der Nachbarssohn des Protagonisten mit einer Videokamera filmt.

    In „Diven, Hacker, Spekulanten“ – einem Sammelband über Sozialfiguren der Gegenwart von 2010 – beschreibt Thomas Düllo die im Wind tanzende Plastiktüte als „Ausdruck der kulturellen Praktik des Flaneurs“. Der Flaneur ist in diesem Fall der Nachbarssohn, der die Tüte filmt. – Eine flaneurhafte Handlung, die sich aus dem zweckfreien Beobachten der Tüte und dem Entdecken ihres zweckfreien ästhetischen Spiels ergibt. Flanieren ist in erster Linie ein Wahrnehmungsexperiment.

    Flanieren für eine offene Stadtkultur

    Ich treffe mich zu einem gemeinsamen Spaziergang mit Tina Saum. Sie betreibt in Stuttgart mit einer Freundin das Projekt „flanerie – Labor für Gedanken und Gänge“. Mit verschiedenen Gehaktionen und Talks wollen sie das Potenzial des Flanierens für eine offene Stadtkultur aufzeigen.

    Saum: „Ich glaub‘ auch letztendlich, wir haben ne Verantwortung, weil das ist unser Umfeld, also wir haben’s auch in der Hand, wie wir leben wollen. Sich da einfach zu fragen, ja, passt das eigentlich so, wie wir unsere Welt hier aufgebaut haben?“

    Wir spazieren durch den Berliner Bezirk Wedding.

    Saum: „Also da war halt eher so Soldinerkiez, und hier hast du halt wieder so woofwoofwoof…große Straßenkreuzung, wie schnell sich da verschiedene Menschen für Sekunden halt begegnen, links rechts aneinander vorbeikommen, waw, ganz viel auf einmal. Dann hast du aber an der – da laufen wir jetzt auch gleich vorbei, eine Eisdiele, sehr gutes Eis auch, und der Mann hat mir erzählt so, er ist der letzte, der hier die Stellung auch noch hält.“

    Das Schildkröten-Zitat von Walter Benjamin hat Tina Saum wörtlich genommen: Sie erzählt von einem Spaziergang, den sie mit einer Schildkröte durch die Stuttgarter Innenstadt gemacht hat.

    Saum: „Es war wie ne Lücke im Alltag, die wir dann auch den Leuten angeboten haben, sich zu uns zu gesellen und hinter der Schildkröte herzulaufen und sie auch das Tempo bestimmen zu lassen. Also wenn sie gestoppt hat, auch länger gestoppt hat, haben wir halt alle länger gestoppt und keiner wusste genau, wann’s auch wieder weitergeht …“

    Vor uns stehen zwei etwa zehnjährige Jungs, die uns schon eine Weile gefolgt sind.

    „Hallo, ich heiße Osman und der heißt Achmedjan. Ich bin ein richtig guter Torwart von unserer Schule “ – „Ok, das senden wir jetzt im Radio.“ – „Radio?!“ – „Ja!“ – „im Radio?“ – „Ja, genau. Wohnt ihr im Wedding?“

    Wenn ich alleine unterwegs bin, ernte ich zwar viele neugierige Blicke – einmal schreit mir jemand ins Mikro:

    „Ruuaaahhh!“

    Ansonsten erlebe ich wenig Interaktionen mit anderen Menschen.

    „Ich fall hier nicht auf! Hier sind genug andere Leute, die Selbstgespräche führen.

    Man beobachtet einfach so viele kleine Szenen, so Mini-Szenen, zum Beispiel eben saß da so ne alte Frau auf ihrem Rollator und neben ihr so’n kleiner struppiger Hund, die saßen da einfach und haben so in die Gegend geschaut. Und eine Ecke weiter jetzt gerade die Straße entlang ist so´n Mädchen die Straße gehüpft und hatte so einen riesigen bunten Rock, den sie so in der Luft rumgeschwungen hat.“

    Autos werden von Städtern ausgeklammert

    Zu Fuß gehen in der Stadt heißt „sich aussetzen“: Die Straße ist permanenter Begegnungsort einander fremder Individuen – und sie ist täglich im Wandel begriffen. Die Auseinandersetzung mit dieser Umwelt erfordert eine hohe geistige Flexibilität, sagt Tina Saum.

    Saum: „Es ist nicht so, du kannst dir irgendwelche Ideen zurecht schustern und dann vielleicht mal schauen, ob´s in der Wirklichkeit ein Alltagsbeispiel dazu gibt, sondern es ist eher andersrum: du weißt nicht, was dich erwartet, also du musst darauf reagieren, was die Stadt gerade in dem Zeitpunkt für dich bereithält, du kannst nicht irgendwelche Lebens- und Weltanschauungen so dein Leben lang oder monatelang mit dir herumtragen. Nein, du bist da draußen.“

    „Hier ist das Finanzministerium, natürlich mit Überwachungskameras. Oh und eine Kutsche! Passt ja hier gar nicht ins Bild. Hier ist es echt nicht so anregend, zu Fuß zu gehen, es gibt nicht so viel zu sehen außer Autos und Gebäude.“

    Am Berliner Hauptbahnhof treffe ich den Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar. Er ist auf der Durchreise und kommt mir mit Rollkoffer und beigem Mantel entgegen.

    Vom Bahnhof überqueren wir die Spree und spazieren in Richtung Reichstagsgebäude. Auch die Spaziergangswissenschaft experimentiert mit der Wahrnehmung.

    Weisshaar: „Wir wollen sichtbar machen, was an sich sichtbar ist, aber von dem Städter nicht mehr wahrgenommen wird.“

    Was Städter „nicht sehen“, sind zum Beispiel Autos:

    Weisshaar: „Also obwohl in jeder Straße in den Großstädten und auch in den Kleinstädten alle Straßen vollgepfropft sind mit diesen Blechkisten, sehen wir das gar nicht, wie unsere Städte eigentlich aussehen.“

    In den 80er Jahren hat der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt die Spaziergangswissenschaft begründet, sie bewegt sich an der Schnittstelle von Soziologie, Stadt- und Landschaftsplanung und Kunst. Ihr Forschungsgegenstand ist die „Ästhetik des Raums“. Reflexive Spaziergänge und ästhetische Interventionen im Raum sollen die Wahrnehmung schärfen.

    Weisshaar: „Der Spaziergang ist das Medium oder das Forschungsinstrument, könnte man sagen. Darüber erklären sich eben manche Dinge ganz anders, dass man im Raum unterwegs ist mit seiner eigenen Geschwindigkeit.“

    Subversive Kraft des Spaziergangs

    Bertram Weisshaar hat bei Lucius Burckhardt studiert. Dessen geschickter Schachzug war es, sich für die Stadtplanung der Mittel der Kunst zu bedienen – oft der einzige Weg, um Sehgewohnheiten auf den Kopf zu stellen, wie er selbst betonte.

    Weisshaar: „Mir ist noch sehr lebendig in Erinnerung dieser Autofahrerspaziergang in Kassel, wo wir also Windschutzscheiben vor uns hergetragen haben auf der Fahrbahn, um so´n bisschen zu verdeutlichen, was für ne eingeengte Perspektive die Autofahrer haben im Vergleich zum Fußgänger, der praktisch ständig ne 180-Grad-Rundumsicht hat. Die andere Aktion war mit den Seminartischen und –stühlen, sich auf so Stellplätze am Straßenrand zu positionieren, wir haben Parkgebühr entrichtet, aber Polizei kam, Ordnungsamt kam und und und..“

    Die Ordnungshüter haben offenkundig die subversive Kraft des Spaziergangs erkannt. Wer seine Wahrnehmung schärft und sehenden Auges durch den Raum spaziert, wird urteils- und kritikfähig.

    „Es ist doch irgendwie auch echt nicht zu fassen, dass man drei Stunden durch diese Stadt laufen kann und es sind überall immer noch Geschäfte und Menschen und Autos … Ich hätte gerne mehr Zeit und mehr Körperkraft. Ehe man sich versieht, ist es abends und .. tun einem die Beine höllisch weh. Man sollte homöopathische Dosen nehmen. Also, die Karl-Marx-Straße könnte man eine Woche lang erkunden. Und diese Straße könnte man getrost auslassen.“

    Der Spaziergangswissenschaftler Lucius Burckhardt: „Spazierengehende Menschen sind schon durch den Gebrauch ihrer Füße langsamer – und da sie gehen, weil sie Lust dazu haben, und nicht, um anzukommen, sind sie zeitlich unberechenbar.“

    Auch im Verkehrssystem sind Fußgänger unberechenbar.

    „Wenn Sie dort alles nur zu Fuß machen, sind Sie in der Verkehrsplanung eher eine außergewöhnliche Figur. Also Sie kommen schon allein statistisch kaum vor, weil man Sie gar nicht kennt.“

    Sagt Andreas Knie, Geschäftsführer des Innovationszentrums für Mobilität und Gesellschaftlichen Wandel.

    Zeitoptimiert von A nach B kommen

    Knie: „Diese Stadt ist auf autofahrende Menschen ausgerichtet oder auf ÖV-fahrende Menschen ausgerichtet, vielleicht sogar langsam schon auf radfahrende. Aber sie ist nicht auf Menschen, die, sagen wir mal, das Zufußgehen als Universalverkehrsmittel genutzt haben, dafür ist die Stadt nicht präpariert und so sehen Sie als Fußgänger oder Fußgängerin in diese Schattenseiten. Und man nimmt zur Zeit, jedenfalls in der Mehrzahl der deutschen Städte, diese Schattenseiten der Verkehrsplanung auch richtig physisch wahr.“

    „Ich lauf hier schon seit gefühlt Stunden diesen Landwehrkanal entlang und der Verkehr reißt nicht ab, ich hab irgendwie gedacht, am Wasser ist es vielleicht ganz schön, aber es war echt´n Fehler. Und dann schlängelt sich dieser Kanal auch noch so.“

    Die Stadtsystem ist darauf ausgerichtet, dass Menschen möglichst zeitoptimiert von A nach B gelangen.

    Knie: „Das ist ne Frage von ökonomischer Effizienz. Je schneller die Verkehrsmittel sind, desto stärker werden sie auch dafür in Anspruch genommen und drum herum baut man sich dann eine Welt, die auf Schnelligkeit fixiert ist.“

    Wie wirkt sich das Leitbild Effizienz und Schnelligkeit auf den öffentlichen Raum aus?

    Knie: „Ja der wird getötet, der Raum wird in dieser Geschwindigkeit nur noch funktionalisiert, da hat man keine Freude mehr am Raum, das ist dann auch nicht interessant, wenn ich jetzt schnell zwei Termine verbinden will, will ich primär schnell unterwegs sein und will mir nicht noch den Raum anschauen.“

    Stadträume als Transitzonen.

    „Hier ist ne Tankstelle, hier könnte man was zu essen kaufen, aber sieht irgendwie auch tot aus. … Extrem komisch, hier so rumzulaufen den ganzen Tag und auch noch Selbstgespräche zu führen. Kann man einsam werden beim Spazierengehen – in der Stadt? Wer Einsamkeit sucht, Freitagabend, Kanzleramt, Hauptbahnhof – der wird fündig.“

    Ich spaziere durch die Stadt und habe immer wieder das Gefühl einer Unlesbarkeit des Stadtbildes. Gebäude, von denen man nicht weiß, welche Funktion sie haben, Geschäfte, von denen man nicht weiß, was sie verkaufen, Schilder und Plaketten, von denen man nicht weiß, welchen Zweck sie erfüllen. Durch die Stadt zu spazieren wirft unzählige Fragen auf, die unbeantwortet bleiben.

    „Verrückt, mir ist noch nie aufgefallen, dass Straßen so unterschiedlich beleuchtet sind. Eine Straße, aus der ich gerade komme, ist irgendwie total dunkel, und die Querstraße, Hertzbergstraße, ist taghell fast erleuchtet. Warum? Hat sich dann jemand gedacht, ja diese Straße, die braucht nicht so viel Licht?“

    Kanalisationen und Dächer

    Das Interesse an der Erforschung des städtischen Raums hat einen Namen: Urban Exploration. Urban Explorer geben sich nicht mit der Oberfläche der Stadt zufrieden, sondern dringen tiefer in ihre Infrastruktur ein.

    Urban Explorer erkunden die Kanalisation und verschaffen sich Zugang zu stillgelegten Industriebauten; sie steigen auf Hochhausdächer und in U-Bahn-Schächte. Ausgehend von Toronto hat sich die Szene auf Städte wie London, Paris, Berlin und Wien ausgebreitet. – Ihr Motto: „Take nothing but pictures, leave nothing but footprints”.

    Ich rufe Bradley L. Garrett in London an. Er ist Aktivist, Geograf und Autor des Buchs Explore Everything: Place Hacking The City – eine Art Grundlagenwerk für Urban Explorer.

    Garrett: „Ich hab zunehmend das Gefühl, dass die Städte, in denen wir leben, nicht für uns gemacht sind. Sie werden immer mehr von multinationalen Konzernen kontrolliert, sie werden zu Orten spekulativer Investitionen, sie sind voller Airbnbs! Die Stadt zu erkunden erlaubt uns, neu über sie nachzudenken, und an ihr teilzuhaben, selbst wenn man uns erzählt oder wir das Gefühl vermittelt bekommen, dass wir es nicht können. Sobald wir anfangen, die Stadt zu erforschen, realisieren wir, dass das nicht stimmt.“

    „Und da eine Riesen-Hochhauswand, sieht eigentlich total schön aus! Ist eigentlich ein deprimierendes Hochhaus mit Satellitenschüsseln und so, aber jetzt ist es im Dunkeln und man sieht eben nur die Lichtfenster und.. sind verschiedene Vierecke mit verschiedenen Farben durch die verschiedenen Helligkeiten der Lichter und der verschiedenen Farben der Vorhänge….wer hat bloß all diese Häuser gebaut. Es sind eigentliche keine Häuser! Wer hat bloß alle diese Objekte gebaut… Und eigentlich…gerade wenn´s dunkel ist und man sieht so, wo die Fenster erleuchtet sind, muss ich mir immer vorstellen, wie es ist, da zu wohnen. Und wer da wohl wohnt.“

    Schon 1960 schrieb Kevin Lynch in „Das Bild der Stadt“:

    „Die beweglichen Elemente einer Stadt – insbesondere die Menschen und ihre Tätigkeiten – sind genauso von Bedeutung wie die stationären physischen Elemente.“

    Sich Orte aneignen 

    Ein Schlagwort von Brad Garrett ist: Place Hacking. Wenn Urban Explorer zum Beispiel die Kanalisation oder U-Bahn-Schächte erforschen, schaffen sie mehr Transparenz der städtischen Infrastruktur. Wenn sie auf die Dächer neugebauter Wolkenkratzer steigen und die Aussicht fotografieren, durchbrechen sie für einen Augenblick das Narrativ der spekulativen Investitionen, aus denen diese Gebäude hervorgehen.

    Garrett: „Es geht um die Synergien zwischen der gebauten und der virtuellen Umgebung. Der Korpus einer Stadt erscheint uns zunehmend als geschlossenes Gehäuse, die Stadt ist ein bisschen wie ein i-phone. Du kannst nicht viel damit anstellen. Ich meine, es sieht gut aus und es ist nützlich, solange die Auswahl an Dingen, die du tun willst, im Betriebssystem integriert sind. Aber wenn du etwas darüber hinaus tun willst, wirst du blockiert, es ist nicht möglich. Und Place Hacking meint das gleiche, wie wenn du ein virtuelles System hackst; es geht darum, Orte zu hacken. Sich einen Ort anzuschauen, die Sicherheitslücken zu erkennen in der Architektur und diese dann zu erforschen, um eine Situation zu schaffen, die normalerweise so nicht da wäre.“

    Orte hacken heißt, sich Orte aneignen, sie verstehen – wo landet die Plastikflasche, die ich in den Müll geworfen habe? Es geht auch um eine Rückeroberung und Erweiterung des eigenen Handlungsspielraums.

    Der Ausdruck „Erschaffung einer Situation“ geht zurück auf die Situationistische Internationale: eine aktivistische Organisation, die vor allem in den 1960er Jahren aktiv war. Der Situationist und Philosoph Guy Debord entwickelte 1958 die sogenannte „Theorie des Umherschweifens“: Die Situationisten unternahmen mehrtägige, kollektive Streifzüge durch Metropolen und hielten ihre Beobachtungen mündlich oder auf Stadtplänen fest. Durch diese aktive Betrachtung des urbanen Lebensraums und die performative Konstruktion von Situationen wollten sie ein revolutionäres Bewusstsein erzeugen und die Menschen wachrütteln, die sie in hierarchischen Strukturen gefangen und durch die Konsumgesellschaft eingeschläfert sahen.

    Garrett: „Ich denke, das was Urban Explorer und Place Hacker machen, steht sehr stark in der Tradition der Situationisten. Die Grenzen, die unser Verhalten im Alltag kontrollieren, sind meistens unsichtbar. Wir tun Dinge nicht, weil wir denken, dass wir sie nicht tun können. Und weil wird das denken, fangen wir an, uns selbst zu zensieren.“

    Durch die Moderne flanieren

    Garrett lebt in London. Wenn ganze Stadtteile der Kontrolle großer Konzerne unterstehen und Kameras das Straßenleben kontrollieren, gibt es an der Oberfläche nicht mehr viel zu entdecken; dann muss man sie durchbrechen und Grenzen überschreiten – womöglich das nächste Level der urbanen Streifzüge von Situationisten, Flaneuren und Querdenkern: Die moderne Großstadt des 20. Jahrhunderts brachte den Flaneur hervor – die neoliberale Stadt des 21. Jahrhunderts den Urban Explorer?

    „Es ist wirklich wie Camping so’n bisschen. Ich steh hier gerade in nem Hauseingang, den ganzen Tag ist man irgendwie unterwegs und geht auf irgendwelche öffentlichen Toiletten, zieht sich in Cafés um, isst den ganzen Tag irgendwo auswärts, es ist echt – man wird so’n bisschen entwurzelt.“

    Dienel: „Freiheit und Abenteuer – ‚Ich geh meilenweit für Camel Filter‘, also es bezieht sich auch auf die ganz unmittelbare, sagen wir mal, Mobilität des wandernden Zigarettenrauchers.“

    Der Historiker Hans-Liudger Dienel von der TU Berlin referiert in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin über Mobilität.

    Dienel: „Natürlich das anarchische Element, wir alle sind ja ein bisschen Anarchisten, denk ich mal. Hier Easy Rider, der berühmte Film aus den 68er Jahren …“

    Das Freiheitsversprechen der Mobilität: die große schnelle Maschine und der Highway. Der Traum einer vergangenen Zeit, meint der Mobilitätsforscher Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin.

    Canzler: „Natürlich gibt’s illegale Autorennen. Übrigens in letzter Zeit sehr gerne mit diesen Carsharing-Autos. Aber ich glaube, wenn man sich den Verkehr insgesamt anguckt, der ist so was von durchreguliert. Auf der Autobahn kann man vielleicht Sonntagmorgens mal 210 fahren, wenn das Auto es hergibt, aber insgesamt ist der Verkehr schon extrem reguliert und das macht ja auch nicht unbedingt viel Spaß.“

    Für die Freiheit, zu bestimmen, wann man wo ist, nimmt man Unfreiheiten in Kauf – das stärkste Beispiel ist zugleich das schnellste Verkehrsmittel: zu fliegen bedeutet, sich unzähligen Abläufen und Regelsystemen unterordnen zu müssen. Auch fahren bedeutet Hierarchie und Verantwortung. Die Autobahn ist eine normative Fahrrinne. „Easy Rider” ist Geschichte.

    „Irgendwie gehören die Autos so dazu, zum Leben. Jetzt sind sie voller Rauhreif. Und dann irgendwann guckt man, wenn es schneit, wie überall auf den Autos Schnee liegt, wenn’s friert, dass die Leute die Scheiben kratzen, das hat schon sowas Saisonales.“

    Schlüssel für tiefere Beschäftigung

    Draußen herumspazieren heißt: Zeit und Raum haben, um um zu denken. 2007 wurde der Zusammenhang von Gehen und Denken neurowissenschaftlich nachgewiesen: die rhythmische Bewegung des Gehens stimuliert den Hippocampus und begünstigt somit die geistige Aktivität.

    Knie: „Das glauben wir schon, dass physische Raumüberwindung an sich schon etwas für die intellektuelle Fähigkeit im Kopf an Konsequenzen hat. Der Begriff Erfahrung sagt es ja, ne, man muss sich etwas erfahren, man fährt etwas rum.“

    Sagt der Mobilitätsforscher Andreas Knie. So viel bedeutender das Denken zunächst erscheint –wesentlich beteiligt ist der Körper.

    Schütt: „Ich glaube, dass das Entscheidende am Flanieren ist, dass es den Menschen als psychophysisches Gesamtwesen bedient.“

    Sagt Thomas Schütt von „Écoleflâneurs“. Die Konvergenz zwischen geistigen und körperlichen Zuständen wird oft unterschätzt. Schon 1897 schreibt der Feuilletonist Hermann Bahr in seinem Essay „Vom Gehen“: „Ich habe mich erinnert, wie Freunde von mir gehen, und es nachgeahmt. Wer das tut und sich dabei zu beobachten nicht unterlässt, wird gewahr, wie mit jeder Veränderung des Ganges auch alle Gedanken, Gefühle und Stimmungen sich verändern; ja, man kann die Gewalt des Ganges bis in die Miene verfolgen, die jede Veränderung des Schrittes annimmt.“

    Bertram Weisshaar: „Das Gehen, so beiläufig das auch auf den ersten Blick erscheinen kann, kann doch schon auch ein Schlüssel sein für sehr tiefgehende Beschäftigung. Es gelingt vielleicht nicht jedes mal, also nicht jeder Spaziergang ist dann ne Welterkenntnis, aber jedes Mal hat´s die Chance dazu.“

    Urbanes Gehen löst Gedanken aus

    Auf der einen Seite der Mensch und seine ihm eigene Fortbewegungsart, das Gehen – auf der anderen Seite die Stadt als Konglomerat aller menschlichen Zustände und Beziehungen: urbanes Gehen kann ein enormes Gedankengeflecht auslösen – über Stadtentwicklung und öffentlichen Raum, soziale Verhaltensnormen, über Arbeitsformen und Mode, über Autos.

    Saum: „Du gehst mit vielen Fragen rein, kommst noch mit mehr Fragen raus und merkst so, ich muss eigentlich dranbleiben, da gibt’s noch viel viel mehr, also…“

    Fragen, die – wie Honoré de Balzac in seiner „Theorie des Gehens“ schreibt, „sämtliche philosophischen, psychologischen und politischen Systeme betreffen, mit denen sich die Welt beschäftigt hat.“

    Schmid: „Du musst es machen. Also da können wir jetzt viel drüber diskutieren.“

    Weisshaar: „Das merkt man ganz schnell, indem man einfach mal geht. Und mehr und mehr geht und dann die Stadt wieder vom Gehen her denkt oder die Welt ein bisschen vom Gehen her auch versucht zu verstehen und das als das Maß des Menschen annimmt.“

    Schütt: „Er ist kein Theoretiker, der Flaneur ist definitiv ein Praktiker. Und seine entscheidende Praxis ist das Gehen. Das ist das Verrückte daran.“

    Garrett: „Das ist der Spaß daran – du kannst niemandem beibringen, wie man die Stadt am besten erkundet. Jede Stadt ist anders und jede Situation, in die du gerätst, ist anders.“

    „Das waren nun ein paar schüchterne Versuche, in Berlin spazieren zu gehen.“ Schrieb Franz Hessel 1929 in Spazieren in Berlin.

    „… und herum und mitten durch, und nun, liebe Mitbürger [und Mitbürgerinnen], haltet mir nicht vor, was ich alles Wichtiges und Bemerkenswertes übersehen habe, sondern geht selbst so wie ich ohne Ziel auf die kleinen Entdeckungsreisen des Zufalls. Ihr habt keine Zeit? Dahinter steckt ein falscher Ehrgeiz, ihr Fleißigen.“

    Quelle: DEUTSCHLANDFUNK KULTUR 23.11.2016

    Mehr zum Thema

    Promenadologie ist die Wissenschaft vom Spazierengehen

    Montagabend-Spaziergang am See in Berlin-Charlottenburg