Die Stadt war die Wiege der Demokratie im antiken Griechenland, sie war der mittelalterliche Ort der Sehnsucht, an dem die Luft frei machte, die Stadt war das Pandämonium in „Metropolis“, und in „Berlin Alexanderplatz“ wurde sie zum topographischen Sinnbild der moralischen Auflösung der Menschen. In Blade Runner schließlich spiegelt die verseuchte Stadt die Trostlosigkeit der Zukunft in den 80er Jahren.
Vom Traum zum Trauma: Bilder und Mythen von der Stadt gibt es ebenso viele wie Städte selbst. Oft suchen sie die Vision von einem besseren Leben in einer besseren Stadt. Meist führt diese Vision nur aus den Städten heraus. Stadtflucht macht frei.
Auf der Weltkonferenz der Städte – Urban 21 – in Berlin sollen die Visionen des Städtischen von der Literatur in die konkrete Sphäre der Politik transportiert werden. Denn: an der Stadt führt keine entwicklungspolitische Umgehungsstrasse mehr vorbei. Bereits mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten, 2025 soll diese Zahl auf zwei Drittel ansteigen. Im Zentrum dieser Entwicklung stehen die Megacities mit mehr als 15 Millionen Einwohnern. Finden sich heute weltweit 5 dieser Agglomerationen, so sollen es im Jahr 2015 bereits 15 sein. Die meisten dieser Städte liegen in Ländern der 3. Welt. Immer schneller verschwindet der Boden unter unseren Füssen: Täglich werden allein in Deutschland 120 Hektar Bodenfläche versiegelt. Das ist die Statistik.
Das Leben in diesen Städten, wie sieht es aus? Vielmehr, wie ist das Leben in diesen aufgeblasenen, versprenkelten Gebilden überhaupt noch zu organisieren? Die Stadtplanung der westlichen Zivilisation mit ihrem Anspruch auf ästhetische, atmosphärische Gestaltung tritt vor diesen Zahlen in den Hintergrund. „Less aesthetics more ethics“ – das Motto der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig zielt ebenso auf eine konkrete Verbesserung der Lebensbedingungen wie das Programm der Urban 21. Zu lösen sind nicht die ästhetischen Fragen nach „krummer oder grader Strasse“, sondern die brennenden nach der Hygiene, der Umweltverschmutzung, der Zersiedelung und Verslumung in den Megacities. Wie wollen wir in Zukunft leben, wie können wir in der städtischen Zukunft überleben?
Ausufernde Slums auf der einen, Zersiedelung auf der anderen Hälfte des Globus: so hatte sich der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright seine geordnete „Unstadt“ sicher nicht vorgestellt. Als bekennender Stadt-Hasser erfand er das Modell der Broadacre City, eine Siedlungsform, die jedem Bewohner ein Häuschen im Grünen bescheren sollte und den Menschen moralisch verbessern würde. Heute ist diese Vision der Zersiedelung in Form von Wohnparks, Tankstellen und Shoppingcentern längst Realität der westlichen Großstädte. Je mehr Menschen ihrem Wunsch nach dem eigenen Haus folgen, umso mehr Probleme ergeben sich durch den Flächenfraß. Jeder, der aus seinem lauschigen Vorort in die Innenstadt pendelt, weiß, dass er nicht alleine ist, sondern Teil einer täglichen rollenden Blechlawine. Die anfallenden Kosten für den Erhalt der Infrastruktur steigen ebenso wie die Belastung der Umwelt. Dazu kommen die Probleme, die sich aus der zugeschriebenen Nutzung der einzelnen Viertel ergeben: Gebiete, die nur dem Wohnen dienen, ausschließlich Gewerbe ansiedeln oder lediglich aus riesigen Supermarkthallen bestehen, scheinen den Nutzern schnell blutleer und verwahrlosen.
Die Trennung der Wohnsphäre von den anderen notwendigen Lebensbereichen war ursprünglich ein Befreiungsschlag für die Stadtplanung. Unter dem Druck der Industrialisierung legte Le Corbusier 1930 in der Charta von Athen die Trennung des Lebens von den verschmutzenden Industriebetrieben fest. Die Folge war ein nicht voraussehbarer Flächenfraß und wachsende Unübersichtlichkeit der Städte. In den westlichen Metropolen ist durch die Fortschritte im Emissionsschutz und Lärmschutz die strikte Trennung überflüssig geworden.
Die Städte der Dritten Welt sehen sich noch mit weitaus gravierenderen Problemen konfrontiert, die durch fehlende Planungsmomente noch verschärft werden. Die Bewohner der Hütten- oder Slumsiedlungen, die sich wie Geschwüre um die Innenstädte ausbreiten, sind von den elementaren Versorgungskanälen abgeschnitten. Diese Städte sind divided-cities bei denen tiefe Gräben zwischen den verschiedenen sozialen Schichten bzw. ihren Wohngebieten verlaufen. Diese Gräben sind unüberbrückbar, weil die Verantwortlichen oft keinen Überblick haben, wo sie aktuell verlaufen. Die Giga-Cities der Dritten Welt wachsen planlos. Ein Beispiel von zweifelhafter Prominenz ist in diesem Zusammenhang die Stadt Lagos in Nigeria. Von Lagos existiert kein brauchbarer Stadtplan, die Stadt wächst und verändert sich täglich. Sie ist auch ein Lieblings-Exempelum des niederländischen Architekten und Stadtplaners Rem Koolhaas. Koolhaas besuchte Lagos innerhalb der letzten 2 Jahre in regelmäßigen Abständen und fotografierte jedes Mal die gleichen Orte in der Stadt. Dem erstaunten Betrachter musste er allerdings erklären, dass es wirklich die gleichen Orte sind, die sich auf den Photos präsentieren: Aus einer Autobahnabfahrt, die auf einer Kuhweide endet, war nach wenigen Monaten ein Schrottplatz geworden, der kurz darauf zu einem Wohnviertel mutierte. Wie viele Menschen in diesen Städten wohnen ist ungeklärt, die Schätzungen für Lagos belaufen sich auf 11 Millionen.
Andere Städte wachsen zwar planvoller aber dafür mit einer den menschlichen Orientierungssinn überfordernden Lichtgeschwindigkeit. Die Stadt Chongqing in China vergrössert ihr Areal zur Zeit jährlich um die Fläche Berlins. Bevölkerungsexplosion und Landflucht führen zu diesem Wachstum. Wenn überhaupt, dann macht hier die Stadtluft frei und deswegen bauen die Chinesen wie die Weltmeister. Dass diese Explosion keine überdachte und menschenfreundliche Stadtentwicklung mit sich bringt, liegt auf der Hand.
Wo die Stadtplanung entfällt, ist auch die Architektur schnell abwesend. Koolhaas nennt diese Mega-Cities „Städte ohne Eigenschaften“. Dem wildwachsenden architekturlosen Raum haftet für den Stararchitekten eine Faszination an. Er studiert die Strukturen der Strukturlosigkeit. Allerdings ist dieses Interesse seiner Natur nach eher „aesthetics“ als „ethics“. Denn die Überbevölkerung bringt neben kuriosen städtischen Entwicklungen vor allem Hunger und Armut mit sich.
Zurück auf der anderen Seite des Äquators ist der architekturlose Raum von Kleingärten und Möbelcentern zwar kein lebensbedrohliches Phänomen, er spiegelt aber auch hier die Verschiebung der gesellschaftlich prägenden Parameter. Die Besiedelung der Um- und Vorstädte erfolgt nach bestimmten Kriterien: Ökonomie, Werbestrategie und Produktionstechnik lauten die Grundsätze der Raumbesiedelung in diesen Gebilden. Und wer diesen Wellblechschuppen-Parks entkommen will und es sich leisten kann, zieht noch ein Stückchen weiter raus, in der Hoffnung, das die Gewerbeparks an irgendeiner unsichtbaren Grenze halt machen. Die sozialen Unterschiede treten auch hier in Form von Ghettobildung zu tage.
Es geht auch in unseren Städten nicht nur um „schön“ oder „hässlich“, sondern auch um das menschen-würdige Leben in diesen Städten. Trotzdem wird das Ziel der Weltkonferenz Urban 21, eine Abschlusserklärung mit Leitlinien für die Stadtentwicklung zu formulieren, kein einfaches Unterfangen. Die unterschiedlichen Entwicklungsstadien und Situationen der Teilnehmer müssen benannt und berücksichtigt werden und dennoch soll die abschließende Entwicklungsrichtlinie, die „Declaration of Berlin“ den Spagat überbrücken.
Das verbindende Zauberwort der Stadtentwicklung, wie sie auch auf der Urban 21 besprochen werden soll, lautet „Nachhaltigkeit“. Geprägt worden ist dieser Begriff auf der Klima-Konferenz in Rio de Janeiro 1992. Im Zentrum der nachhaltigen Entwicklung steht der vorausschauende Umgang mit den natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen bezogen auf die jeweilige Situation der Metropolen.
Die Stadt als Seismograph der Gesellschaft: das ist sie schon immer gewesen. Mit der Etablierung der Stadt als internationales Konferenzthema beweist sich der Brennglascharakter der Stadt für gesellschaftliche Entwicklung aufs Neue. Nicht nur, dass erstmals in der Geschichte der Menschheit mehr Menschen in Städten leben als auf dem Land, das Leben in den Städten kann nicht mehr als rein lokales oder nationales Problem begriffen werden. Die Großstädte sind die Zentren der globalen Wirtschaft. Der Globalisierungsglamour bringt in allen Metropolen der Welt aber nur bestimmte Viertel zum glitzern, die Verteilung des Wohlstands und eine gesunde Durchmischung der Sektoren gehören zu einer nachhaltigen Entwicklung dazu. Vielleicht wird ja die „Declaration of Berlin“ auf diesem Problemfeld eine ähnlich nachhaltige Wirkung erreichen, wie seinerzeit die Charta von Athen …
13.07.2000